1. Die Hoffnungslosigkeit von Gewalt, Gegengewalt und Resignation
Unsere Welt ist gekennzeichnet von Gewalt, die sich am auffälligsten im Krieg ausdrückt. Von 100 Menschen, die im I. Weltkrieg umkamen, waren 5 Zivilisten und 95 Soldaten. In den letzten Jahrzehnten verschob sich das Verhältnis so, daß es im Vietnamkrieg etwa umgekehrt war, nämlich von 100 Toten etwa 95 Frauen, Kinder und sonstige Zivilpersonen. Dies als e i n Beispiel für die Sinnlosigkeit des Krieges, auch des vorgeblich gerechten oder Verteidigungskrieges. In der Gegenwart ist auf unserer Erde ein so riesiges Potential an Massenvernichtungswaffen angehäuft, daß ein großer Krieg die Selbstvernichtung der Menschheit bedeuten würde und selbst kleine Kriege nicht mehr gewonnen werden können. Das Wettrüsten, das ja eine Drohung mit Gewalt darstellt, verschlingt enorme Mittel, und blockiert damit die Lösung des Welternährungs- und des Umweltproblems so stark, daß es in wenigen Jahrzehnten selbstzerstörerisch für die Menschheitsgeschichte werden wird, selbst wenn es nicht zu einem Krieg kommt.
Krieg und Rüstung, aber auch terroristische Systeme wie in Chile oder Südafrika und der agitatorische Terrorismus lassen Gewalt offen zutage treten. Doch Gewalt verbirgt sich auch hinter verfestigten Strukturen, die in vielen Ländern Ausbeutung, Unterdrückung, Unfreiheit und Ungerechtigkeit verewigen wollen. Diese s t r u k t u r e l l e Gewalt hemmt eine Entwicklung zur Gewährleistung von Menschenwürde und Gerechtigkeit. Ein bewaffnetes Aufbegehren dagegen führt meist zu blutigen Niederlagen oder, wenn durch Unterstützung von außen ein Sieg errungen werden kann, zu Abhängigkeiten, neuen totalitären Systemen mit wiederum ungerechten Gewaltstrukturen und Machtmißbrauch, wenn auch unter anderen Vorzeichen. In den hochentwickelten Industrieländern ist in der Regel soziale Sicherheit, zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung gewährleistet, die aber durch strukturelle Gewalt mit Unterordnung der Einzelnen und festgefügten Machtverhältnissen erkauft wird. Die Entwicklung zu mehr Freiheit und unmittelbarer Einflußnahme der Bevölkerung auf das Geschehen im Staat stagniert. Es kommt zur Gleichgültigkeit, Resignation und innerer Emigration bei der Mehrheit. Man meint, ja doch nichts zu ändern, doch nichts echt mitentscheiden zu können. Initiative, Potenzen zum gesellschaftlichen Engagement und Begeisterungsfähigkeit werden von oben bewußt in individualische Richtungen, z.B. den Konsum oder den Zuschauersport gelenkt oder weichen eben aus Resignation heraus in solche Richtungen aus. Es kommt zu einer Flucht aus der Gesellschaft ins Privatleben, z.B. Garten, Eigenheim, Auto, Ausreiseantrag, Fernsehen, rein auf das Innenleben bezogene Religiösität. Oftmals sind es durchaus positive Dinge die aber einen unangemessen hohen Stellenwert erhalten.
Krieg, Rüstung, Terrorsysteme, verfestigte Strukturen – die Gewalt in der Sackgasse, Gegengewalt und Nichtstun sind keine Lösungsmöglichkeiten. Eine Alternative, die Möglichkeit der Gewaltfreiheit, für die es viele Beispiele und Vorbilder gibt, müßte weiterentwickelt und praktiziert werden.
2. Der Begriff der Gewaltfreiheit
2.1. Gewaltfreiheit und Passivität
Gewaltlosigkeit wurde und wird oftmals als Widerstandslosigkeit oder passiver Widerstand bezeichnet, als etwas für Schwache, Feiglinge, Ängstliche, Hilflose, die keine Waffen besitzen oder sich fürchten, Waffen zu führen. Zur Vermeidung derartiger Mißverständnisse wurde der Begriff Gewaltfreiheit für die aktive Gewaltlosigkeit geprägt, der sich aber nicht überall durchsetzte. Es werden deshalb beide, Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit, nebeneinander für die gleiche Sache verwendet.
Martin Luther King sagte dazu: „Mein Studium Gandhis überzeugte mich davon, daß wahrer Pazifismus nicht einfach Widerstandslosigkeit gegenüber Bösem ist, sondern Widerstand ohne Gewalt. Zwischen den beiden Standpunkten besteht ein himmelweiter Unterschied. Gandhi widersetzte sich dem Bösen mit ebensoviel Energie und Gewalt wie der, der gewalttätig Widerstand leistet. Aber er widersetzte sich mit Liebe statt mit Haß.“ (King, Mein Weg zur Gewaltlosigkeit, Zeichen der Zeit S. 43/196)
2.2. Versuch einer Definition
Gewaltlosigkeit/Gewaltfreiheit ist eine aktive innere Haltung, Kampfmethode und Aktionsform zur Lösung von Konflikten und zur Herbeiführung positiver gesellschaftlicher Veränderungen, die auf die Anwendung von physischer Gewalt gegen Menschen bewußt verzichtet, wobei also andere Menschen nicht verletzt oder getötet werden.
Dieser Definitionsversuch vereinfacht. Es gibt verschiedene Abstufungen. So lehnen manche auch die Gewaltanwendung gegen Sachen ab, z.B. gegenüber dem Zaun eines KKW-Bauplatzes oder eines militärischen Geländes.
2.3. Methoden bzw. Aktionsformen der gewaltfreien Direktaktion und ihrer Vorstufen
-Petition, -Einflußnahme auf Kandidatenaufstellung bei Wahlen, -Prozeß, -Nichtzusammenarbeit mit ungerechten Systemen, -Austritt, -Verweigerung von Steuern, -Demonstration, -Sitzstreik, -Hungerstreik, -Boykott, -Umgekehrter Streik, -Streik, -Übertretung ungerechter Gesetze, -Zivilier Ungehorsam, -Gewaltfreie Besetzung
(handschriftliche Anfügung): Die Methoden oder Formen der gewaltfreien Aktion gipfeln im gewaltfreien Aufstand anstelle einer bewaffneten Revolution und in der gewaltfreien Landesverteidigung anstelle eines Verteidigungskrieges. Die Theorie der sozialen Verteidigung geht von der Überlegung aus, daß dem pot. Agressor statt eines zu hohen Eintrittspreises ein zu hoher Aufenthaltspreis entgegengesetzt wird. Das funktioniert natürlich nur unter der Voraussetzung, daß eine echte und breite Zustimmung der Bevölkerung besteht und die ganze Bev. entsprechend geschult und vorbereitet ist Dem äuß. Feind glaubwürdig machen, daß eine Invasion ihm keinerlei Nutzen bringen würde. 3. Erfahrungen mit der gewaltfreien Aktion
3.1 Mahatma Gandhi
In Südafrika lebte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eine indische Minderheit, die als kleine Kaufleute und Kontraktarbeiter auf Zuckerplantagen besonders unterdrückt wurden. Sie waren praktisch leibeigene, mit einer hohen Kopfsteuer belegt, nicht wahlberechtigt, unterlagen Wohnsitzbeschränkungen und einem nächtlichen Ausgangsverbot. Ihre Ehen wurden für ungültig erklärt. In Eisenbahnen wurden sie diskriminiert. Unter diesen Bedingungen führte Gandhi seit 1894 Aktionen an, die von legaler Agitation bis zu gewaltlosen Kampagnen offener Gesetzesübertretung reichten. Er entwickelte die Satjagraha, d.h. (unvollkommen übersetz) Kraft aus Wahrheit und Liebe. Diese Satjagraha-Bewegung wurde als Mittel des sozialen Kampfes eingesetzt. Aus Protest gegen demütigende Registrierungsbestimmungen kam es zu einer friedlichen Besetzung der Registrierungsstellen. Tausende Inder verbrannten ihre Registrierscheine, viele betrieben einen unkonzessionierten Straßenhandel, um ihre Verhaftung zwecks Überfüllung der Gefängnisse zu provozieren. Auch Gandhi wurde inhaftiert. Indische Frauen drangen in das Kohlenrevier von Transvaal ein und riefen die Bergleute zum Streik auf. Die Polizei setzte Peitschen und Schußwaffen gegen Streikende ein. Bei der Trauerfeier für die Ermordeten legte Gandhi für immer seine europäische Kleidung ab. Er gründete die Tolstoi-Farm, nachdem er schon eine andere Gemeinschaftssiedlung ins Leben gerufen hatte. Als die weißen Eisenbahner streikten, blies Gandhi einen geplanten Marsch ab, weil er nicht die Schwächen des Gegners für seine Interessen ausnutzen wollte. Mit dieser Geste gewann er die öffentliche Meinung, die die Regierung so sehr unter Druck setzte, daß sie die Kopfsteuer abschafften und die indischen Ehen wieder für gültig erklären mußten. Seit 1914 führte Gandhi seinen Kampf in Indien als Befreiungskampf gegen die britische Kolonialmacht weiter. Er begann mit einem Boykott britischer Textilprodukte, indem in den Dörfern Spinnrad und Handwerksstuhl wieder eingeführt wurden. Mit ihrem handgearbeiteten Tuck gelang es den Indern, das britische Textilmonopol zu brechen. Diese Kampagne ging einher mit einer Sanierung der verkommenen Dörfer. 1918 verließ die Regierung die „Rowlatt Bill“, ein Gesetz mit schweren Strafen gegen als Befreiungskämpfer Verdächtige, geheimen Prozessen ohne Berufungsrecht. Gandhi rief zu einer nationalen Satjagraha auf, die in Form eines Hartals, eine Art Generalstreik einschließlich Ladenschließung, Protestkundgebungen, Verbreitung verbotener Schriften u. a. Gesetzesübertretungen, durchgeführt wurde. Die Kolonialregierung antwortete mit Gewalt. Gandhi versuchte, jede Aktion genau abzugrenzen und von zuverlässigen, ausgebildeten und berufenen Kräften zu führen. Diese Satjagrahis hatten gleichzeitig die Funktion von Lehren, Friedensstiftern und landwirtschaftlichen Beratern. Zahllose Inder forderten ihre eigene Verhaftung heraus. Auch Gandhi wurde wiederholt inhaftiert und trat dann oft in Hungerstreik. Das brachte die Regierenden wegen seiner großen Popularität jedesmal in arge Verlegenheit. Weitere Formen des gewaltfreien Kampfes waren Steuerstreik und Nichtzusammenarbeit, wobei Gandhi große Flexibilität zeigte. Er arbeitete von Fall zu Fall auch mit den Engländern zusammen. 1930 verkündete er die indische Unabhängigkeitserklärung. Um gegen die Salzsteuer anzugehen, machten sich 79 Freiwillige, denen sich Tausende anschlossen, auf den Weg, um an der 241 Meilen entfernten Küste entgegen den Gesetz Salz aufzuheben. Daraufhin begannen die Inder überall, Salz selbst herzustellen. Gesetzgeber und Behörden waren machtlos, Soldaten weigerten sich, auf die Demonstranten zu schießen, 60 000 Menschen wurden verhaftet, und trotzdem besetzten wieder andere sogar die Regierungs-Salzwerke. Zur Versöhnung zwischen Hindus und Moslems und zur Abschaffung des Kastensystems mit dem entwürdigenden Status der Unberührbaren fastete Gandhi mehrmals und pilgerte 1200 Meilen durch das Land. Die Briten hatte er nach und nach durch die ehrenvolle und gewaltfreie Form seiner Aktionen sozusagen bekehrt, so das sie ihren imperialistischen Herrschaftswillen gegenüber Indien aufgaben. Hauptsächlich durch Gandhis Einfluß wurden sie ihrer Kolonie überdrüssig. Nach dem II. Weltkrieg entließ Großbritannien als Ergebnis von Verhandlungen Indien in die Unabhängigkeit. Die Gestaltung des neuen Indien konnte Gandhi sehr wenig beeinflussen. Er äußerte sich besorgt über die Militarisierung Indiens. Seine Vorstellung war, im Falle einer Invasion Friedensbrigaden ausziehen zu lassen, die sich dem Aggressor unter Verzicht auf Gewalt entgegenstellen sollten. Er verwarf auch den Machtzuwachs des Staates, der wohl die Ausbeutung verringerte, aber die Individualität vernichtete. Gandhi selbst hatte niemals nach der Macht gestrebt, was einmalig unter allen Revolutionären ist. Er war niemals Vorsitzender der Kongreßpartei, sondern blieb immer Vermittler zwischen Partei und Volk. 3.2. Martin Luther King
Fast 100 Jahre waren vergangen seit Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika durch Präsident Abraham Lincoln. Aber noch immer standen die USA im Schatten der Rassentrennung und –diskriminierung an Arbeitsplätzen, Bildungsstätten, in Verkehrsmitteln, öffentlichen Einrichtungen, Geschäften und Gaststätten, im Zeichen der Feindschaft zwischen Weiß und Schwarz. 1955 kam in Montgomery/Alabama, ausgelöst durch einen diskriminierenden Vorfall in einem Bus zu einem Busboykott durch die farbigen Einwohner, dessen Leitung dem jungen Baptistenpfarrer Martin Luther King übertragen wurde. Während einer Versammlung in der Kirche sagte er: „Wir sind es müde gedemütigt, müde herumgestoßen zu werden.“ 381 Tage hielten die Neger der Stadt den Boykott durch, bis die Busgesellschaft dem Bankrott nahe war und das Oberste Gericht die Rassentrennung in den öffentlichen Verkehrsmitteln für verfassungswidrig erklärte. Diesem Ereignis folgten Demonstrationen, gewaltlose Direktaktionen, Verhandlungen und Prozesse im ganzen Land. Durch „sit ins“ (mit Sitzstreik [gewaltfreie Besetzung] unvollkommen übersetzt) in Imbißstuben und Gaststätten, „read ins“ in Büchereien, „kneel ins“ in Kirchen (am Mississippi beten die Christen getrennt), „swim ins“ in Badeanstalten, „shop ins“ in Läden wurden nach und nach ursprünglich nur Weißen vorbehaltene Einrichtungen integriert. In Demonstrationen protestieren die Farbigen gemeinsam mit sympathisierenden Weißen gegen Unrecht und Unterdrückung, von King immer wieder aufgerufen, Polizei- und Rassistenterror nicht mit Gewalt zu beantworten. Unter den Augen von Kameras und Reportern ging die Polizei teilweise mit Wasserwerfern und Hunden gegen die singenden und betenden Demonstranten vor , was wiederum die Sympathien für die Neger in der weißen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit vermehrte. In den Südstaaten besaßen nur ca. 10% der wahlberechtigten Neger tatsächlich das Stimmrecht. Durch gewaltfreie Aktionen während mehrerer Wahlkampagnen gelang es ihnen, z.B. in Süd-Carolina die Zahl der stimmberechtigten Neger in zwei Jahren zu vervierfachen, in Texas innerhalb von 90 Tagen zu verdoppeln und somit mehr Angehörige ihrer Rasse in öffentliche Stellungen zu wählen. Auch die „Nichtzusammenarbeit mit dem ungerechten System“ und die Aufforderung zur Nichtbefolgung ungerechter Gesetze gehörten zu Kings Strategie im Bürgerrechtskampf.
Für viele Weiße erschien die zunehmende Desegregation unerträglich: Drohbriefe, Bombenanschläge, rassistischer Terror waren die Antwort. King entgegnete: „Wir müssen unsere weißen Brüder lieben, gleichgültig, was sie uns antun“. Im Verlauf der Auseinandersetzung kam es zu Massenverhaftungen und Verhaftung der Führer der Bürgerrechtsbewegung. Einen Höhepunkt erreichte der Bürgerrechtskampf 1963. Mehr als eine Million Demonstranten bevölkerten in diesem Sommer die Straßen der USA. In Birmingham kam es zu 14 000 Verhaftungen. In einem Brief aus dem Gefängnis in Birmingham schrieb King an konservative Geistliche, die ihm vorgeworfen hatten, ein Extremist zu sein: „War nicht Jesus ein Extremist der Liebe, als er forderte: Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen, segnet, die euch verfluchen? War nicht Martin Luther ein Extremist, als er erklärte: Hier stehe ich, ich kann nicht anders? . . . Werden wir Extremisten für die Fortdauer der Ungerechtigkeit oder für die Ausweitung der Gerechtigkeit sein? Es mag wohl sein, daß der Süden, unser Volk, ja die ganze Welt schöpferische Extremisten bitter nötig haben!“
Im August 1963 formierten sich 250 000 Menschen aus fast jedem Staat der Union zu einem Marsch auf Washington, wie ihn die Hauptstadt noch nicht erlebt hatte. Die Regierung mußte einen eindrucksvollen Gesetzesentwurf an die Spitze aller im Kongreß zu beratenden Anträge setzen. In Chicago organisierte King einen „umgekehrten Streik“ in Form von Mietboykott und Selbstrenovierung der von den Hausbesitzern vernachlässigten Häusern und Wohnungen. Er hatte dort selbst eine ärmliche Wohnung bezogen. „Ich wollte kein Zuschauer sein, ich wollte dort stehen, dort mittun, wo die Dinge sich entscheiden.“ Martin Luther King vertrat die Auffassung: „Wahre Religion muß sich auch um die sozialen Verhältnisse kümmern. Sie hat es mit beiden, Himmel und Erde, mit Zeit und Ewigkeit zu tun.. Sie versucht nicht nur die Menschen mit Gott, sondern auch die Menschen untereinander zu vereinen.“ Der Bürgerrechtskampf war nicht frei von Rückschlägen und Niederlagen. Doch nach und nach konnten einige bestehende gerechte Gesetze praktisch durchgesetzt, die ersten Bürgerrechtsgesetze seit etwa 80 Jahren erlassen und eine ganze Reihe Rechte für die Farbigen erkämpft werden.
Martin Luther King mahnte seine Mitstreiter immer wieder zur Gewaltlosigkeit. Er hatte auf dem Hintergrund der Bergpredigt die Methode Gandhis zum gewaltfreien Kampf für sein Volk übertragen. Während das indische Volk gegen eine Minderheit englischer Kolonialherren zum gewaltlosen Kampf angetreten war und so schließlich seine Unabhängigkeit errungen hatte, wagten sich die Afroamerikaner als Minderheit, von etwa 11% des amerikanischen Volkes, mit gewaltfreien Mitteln an die weiße Mehrheit der USA heran. Daß auch mit einem solchen Kräfteverhältnis Erfolge erzielt werden können, war das Neue und Verblüffende an Kings Kampf. Sein Ziel war, durch die Methode des gewaltfreien Kampfes die weiße Mehrheit zum Umdenken zu bewegen. Er hielt die Gewaltlosigkeit für „zweckmäßig, vernünftig und moralisch vortrefflich.“
Immer stärker sah er den Kampf um Rassengleichheit als Teil des Friedenskampfes an und engagierte sich zunehmend in der Weltfriedensbewegung. 1964 wurde King der Nobel-Friedenspreis verliehen. In seiner Nobelpreisrede „Die neue Richtung unseres Zeitalters“ (1965 im UNION Verlag erschienen) sagte King: „Die Zeit ist gekommen für einen mit aller Macht geführten Weltkrieg gegen die Armut!“ und „Die Tatsache, daß die Menschen die Gefahr eines Atomkrieges die meiste Zeit aus ihren Hirnen verbannen, ändert das Wesen und die Gefahr eines solchen Krieges nicht“, „Wir müssen den Rüstungswettlauf in einen Friedenswettlauf verwandeln.“
Auf Martin Luther King waren schon drei Attentatsversuche verübt worden. Er selbst sagte: „Wenn ihr mich eines Tages tot auffinden werdet, sollt ihr auf keinen Fall Gewalt gegen Gewalt setzen und mich rächen! Ich bitte euch inständig, dann den Protest mit derselben Disziplin weiterzuführen wie bisher!“ 1968 begab sich King nach Memphis/Tennesee, um den dortigen Müllerarbeiterstreik zu unterstützen. Dort traf ihn am 4. April die Kugel des Mörders.
Im kanadischen Rundfunk hatte King Ende 1967 eine Reihe von Reden gehalten, die zusammengefaßt unter dem Titel „Aufruf zum zivilen Ungehorsam“ veröffentlicht wurden. Darin entwickelte er Theorie und Strategie seines Kampfes so weiter, daß sich die Bürgerrechtsbewegung zwar weiterhin der physischen Gewalt gegen Menschen enthalten, aber als Massenbewegung das amerikanische Gesellschaftssystem mitten ins Herz treffen sollte: „Die Neger müssen daher nicht nur ein Programm formulieren, sie müssen neue Taktiken ausarbeiten, die nicht mit dem guten Willen der Regierung rechnen, sondern widerwillige Behörden zu zwingen vermögen, sich den Forderungen der Gerechtigkeit zu beugen… Der gewaltlose Protest muß jetzt reif werden für eine neue Stufe… Diese höhere Stufe besteht im bürgerlichen Massenungehorsam… Bürgerlicher Massenungehorsam kann den tiefen Zorn des Ghettos in eine aufbauende, schöpferische Kraft umwandeln. Das Funktionieren einer Stadt zu stören, ohne sie zu zerstören, kann wirkungsvoller sein als ein Aufstand, denn es kann länger dauern und die große Gesellschaft teuer zu stehen kommen, ohne daß böswillig Schaden angerichtet wird . . . Damit wollte ich nur zeigen, daß Gewaltlosigkeit zwar erfolgreich sein wird, aber erst dann, wenn sie die Massendimension, die disziplinierte Planung und die intensive Hingabe einer anhaltenden, unmittelbar wirkenden Bewegung zivilen Ungehorsams von nationalem Umfang erreicht.“
King hatte die kühne Idee, amerikanische Großstädte durch gewaltlose Direktaktionen lahmzulegen und erhoffte sich davon eine große Wirksamkeit. Für 1968 war ein gewaltiger „Marsch der Armen“ nach Washington geplant, der Verkehrsmagistralen, Ministerien und Verwaltungen blockieren, die ganze seelenlose Funktion der bürokratischen Maschinerie in der Bundeshauptstadt stören sollte. King hatte gesagt: „Unser Programm ruft zur Neuverteilung der ökonomischen Macht auf.“
Unter diesen Perspektiven der Bürgerrechtsbewegung sah sich der USA-Imperialismus aufs äußerste gefährdet. Er fürchtete wohl, daß 1968 der 39jährige King erst am Anfang seines Kampfes stehen könnte, und er wußte, daß er für den Großteil der Afroamerikaner als ein Prophet galt, der sein Volk über den Jordan führen sollte. Der „Marsch der Armen“ fand wohl statt, aber unter dem Schock des Verlustes ihres „Moses“ verlief die Aktion nicht wie geplant, wenn auch nach 73 Tagen des gewaltfreien Protestes in über 1000, vor dem Lincoln-Memorial in Washington aufgeschlagenen ärmlichen Hütten, der „Stadt der Auferstehung“, eine Ernährungshilfe für 256 Regierungsbezirke und 100 000 neue Arbeitsplätze für Farbige zugesichert wurden.
Rückschauend muß man anerkennen, daß in den wenigen Jahren von Kings Wirksamkeit mehr erreicht wurde als in 100 Jahren bewaffneten Aufständen, und in zehn Jahren gewaltfreien Protestes unter King im Süden der USA waren weniger Opfer zu zählen als in den zehn Jahren des Aufruhrs im Norden. Man kann aus der Ermordung Kings und der nachfolgenden Stagnation der Bürgerrechtsbewegung in den USA nicht ableiten, daß die Gewaltlosigkeit gescheitert oder tot sei. Auch die Black Power, die Black Panther Party und andere militante Bürgerrechtsorganisationen konnten mit Mitteln der Gewalt in den letzten Jahren in den USA keine nennenswerten Erfolge erzielen. Um 1970 kamen die „Black Panthers“ davon ab, in schwarzen Lederjacken mit umgehängter Maschinenpistole durch nächtliche Straßen zu patroullieren. Der Reifeprozeß der Black Panther Party hatte Kontakte zu den Gewerkschaften, Arbeit in den Ghettos, die Einrichtung gebührenfreier Kranken-häuser für Arme zum Ergebnis. So kamen sich eigentlich gemäßigte und militante Negerorganisationen näher. Die seinerzeit von King gegründete Southern Christian Leadership Conference arbeitet heute nicht mit spektakulären Massenaktionen, sondern kümmert sich auch mehr im Verborgenen um soziale Probleme der Afroamerikaner und anderer benachteiligter Minderheiten in den USA. Sie leistet Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung, analysiert die Einkommensverteilung der Landbe-völkerung, versucht den Anteil der Schwarzen als Sheriffs, in Gerichten, Kreisverwaltungen und Schulen zu erhöhen entsprechend dem prozentual hohen Bevölkerungsanteil der „Afros“ in den Südstaaten, organisiert Gefangenenbetreuung, unterstützt Arbeitslose, beteiligt sich finanziell an einem Bekleidungswerk mit günstigen Arbeitsbedingungen für Farbige.
Seit dem Busboykott 1955 arbeitet die „Liga der Kriegsgegner“ in den Vereinigten Staaten eng mit der Bürgerrechtsbewegung zusammen. Sie hatte einen hohen Anteil daran, den Vietnamkrieg innerhalb der USA äußerst unpopulär zu machen, was wiederum einer der Gründe dafür war, weshalb die USA schließlich und endlich diesen Krieg aufgegen mußten. In Palo Alto, Kalifornien, wurde durch die Sängerin Joan Baez und andere Sympathisanten Kings ein „Institut zum Studium der Gewaltlosigkeit“ gegründet, daß ausschließlich aus Spendenmitteln finanziert wird. Es handelt sich um eine Schule, die durch Tagungen und Kurse gegen eine kollektive Interessenlosigkeit angeht und Teilnehmer für gewaltfreie Aktionen praktisch vorbereitet. Ähnliche Einrichtungen gibt es auch in anderen Teilen der USA. Es sind meist nur zahlenmäßig kleine Gruppen, die aber doch eine intensive Basisarbeit leisten und zu den Keimzellen der heutigen starken USA-Friedensbewegung wurden.
3.3. Sonstige historische Beispiele
… (hier wurde der gewaltfreie Widerstand der Tschechen und Slowaken gegen die Invasion der Warschauer-Vertrags-Truppen zur Niederschlagung des politischen „Prager Frühlings“ 1968 geschildert mit dem Fazit, daß dieser spontane Widerstand, nicht geplant und durch eine unvorbereitete Bevölkerung durchgeführt, nicht gescheitert ist, sondern auf Verlangen der existenziell unter sowjetischen Druck geratenen eigenen Führung abgebrochen wurde. Dieser mündlich mit vorgetragene Passus wurde 1981 aus Sicherheitsgründen nicht mit vervielfältigt.
3.4. Die kalifornische Farmworker Bewegung
Die ärmste Bevölkerungsgruppe in den Vereinigten Staaten sind die mexikanischen Landarbeiter im äußersten Süden. Sie waren als Saisonarbeiter ausgeschlossen von Tarifverträgen, Arbeitslosen-, Kranken- und Alters-versicherung, Wohlfahrtsunterstützung, bezahltem Urlaub und gewerkschaftlicher Organisierung. Unter der Leitung von Cesar Chavez organisierten die Traubenpflücker und Kopfsalatarbeiter mit Unterstützung der Kirchen einen fünf Jahre dauernden Streik, den längsten in der Geschichte der amerikanischen Arbeiter-bewegung. Sie gründeten gegen erbitterten Widerstand eine Gewerkschaft, die „United Farm Workers“ UFW, Vereinigte Landarbeitergewerkschaft. Durch gekaufte Streikbrecher, 6000 Verhaftungen und starkem Terrror gegen Streikposten war der Landarbeiterstreik nicht voll wirksam. Deshalb ergänzte ihn die Bewegung um Chavez durch Aufforderungen an alle Supermärkte in den USA, Salat und Trauben aus Kalifornien nicht mehr zu übernehmen. Da die größten Supermarkt-Ketten zu den Plantagenbesitzern hielten, warben 600 streikende Landarbeiter zusammen mit 400 Freiwilligen in den Städten der USA, Kanadas und Großbritanniens für einen Käuferboykott gegen die kalifornischen Agrarprodukte. Die Supermärkte und das Agrobussiness erlitten starke Verluste. Durch gewaltfreie Aktionen gelang es auch, den Gouverneuer von Arizona abzuwählen und bei einer Volksabstimmung in Kalifornien Anti-UFW Gesetzesvorschläge abzulehnen. So konnte erreicht werden, daß der größte Teil der amerikanischen Traubenindustrie Verträge mit der UFW abschloß, die Plantagenbesitzer Lohner-höhungen zustimmten, bezahlte Feierteage, Urlaub, eine Alters- und Gesundheitsversorgung einführen mußten. Unterstützt wird der weiterhin anhaltende gewaltlose Kampf der US-Farmworkers auch durch die Aktion Sühne-zeichen – Friedensdienste aus der Bundesrepublik Deutschland. 3.5. Die französische Bauernbewegung in Larzac
Ein Beispiel nennenswerter gewaltloser Bewegungen neben den bekannten Sozialbestrebungen in Riesi/Sizilien aus dem Bereich Westeuropas ist der seit 1971 anhaltende Widerstand von 103 Bauern der Larzac-Hochebene in Südfrankreich gegen einen geplanten Truppenübungsplatz, um 14 000 ha landwirtschaftliche Fläche, auf der in den vergangenen 10 Jahren eine Verdoppelung der Anbaubarkeit und der Milchproduktion gelungen war. Arbeiter, Kriegsdienstverweigerer, engagierte Christen und Umweltschützer unterstützen die Bauern des Larzac. Der gewaltfreie Kampf der Franzosen kennt phantasievolle Formen. Unter dem Eifelturm in Paris ließen die Bauern ihre Schafe „demonstrieren“, schickten ihre Militärpässe an das Verteidigungsministerium zurück, bestellten Äcker, die schon die Armee in Beschlag genommen hatte, verweigerten Steuerzahlungen und gründeten landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Bis zu 150 000 Menschen demonstrierten auf der Ebene des Larzac. Der Kern des Widerstandes schloß sich in der von Lanza del Vasto, einem ehemaligen Mitarbeiter Gandhis, gegründeten „Gemeinschaft der Arche“ zusammen. Würdenträger der katholischen Kirche und Vertreter von Linksparteien solidarisierten sich, z.T. durch Fasten und Hungerstreiks, mit den Bauern. Eine Maoistische Gruppe versuchte vergeblich, die antimilitaristische Bewegung in gewaltsamen Kampf umzufunktionieren. Die Bauern aber demonstrierten mit ihren Traktoren bis nach Paris, ketteten sich zusammen, sprengten einen Jahresball der Offiziersmesse. Der Erzbischof und fast alle Pfarrer der Umgebung außer dem Ortspfarrer, der gleichzeitig Militärgeistlicher ist, hielten zu den Bauern. An einem „Tag der offenen Bauernhöfe“ widerlegten die Landwirte das Zerrbild des französischen Fernsehns einer öden Steinwüste und verlassener Höfe. Zahlreiche gewaltfreie Aktivisten halfen den Bauern, nicht nur bei Aktionen, sondern auch bei der täglichen Arbeit, wobei auch Schulungsarbeit und Bewußtseinsbildung geleistet wird. Antimilitarismus- und Ökologie-Aktionsgruppen aus anderen Landesteilen, die Linksgewerkschaft OFDT und die Kirche sympathisierten mit den Landwirten. Auf dem als Artillerie-Schießplatz vorgesehenen Gelände errichteten Freiwillige in unentgeltlicher Arbeit einen Gemeinschaftsschafstall für 1000 Schafe. Als das erste kollektive Feld auf dem Larzac geerntet werden konnte, wurde von fast 150 000 Menschen unter dem Motto „Getreide bringt Leben – Waffen bringen Tod“ ein Erntedankfest gefeiert, dessen Erlös den Dürregeschädigten der Sahelzone Afrikas zugute kam. Als die Bauern der Gegend auf die Rathäuser zur Gegenzeichnung der Enteignungsunterlagen bestellt wurden, kam es zu Rathausbesetzungen und Vernichtung der Akten durch Demonstranten. Vorher war es einem Kollektiv gelungen, über 300 ha Land von der Armee aufzukaufen, in landwirtschaftlichen Gemeinbesitz zu überführen, durch Anteilscheine die Zahl der Enteignungsverfahren zu vertausendfachen. In ganz Frankreich demonstrierten 1974 Sympathisanten der Schafzüchter. Die Armee versuchte in den folgenden Jahren, durch spekulative Angebote vom 10fachen des Bodenwertes und durch Gewaltsame Übergriffe, die Einheit der Bauern und ihrer Freunde aufzuweichen. Alljährlich im August erhielt der andauernde gewaltlose Widerstand der Landwirte Auftrieb durch eine Großdemonstration. 3.6. sonstige gegenwärtige Beispiele
Während die Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika und in Lateinamerika zum großen Teil mit gewaltsamen Mitteln operierten, gibt es dort auch wie in Nordamerika und Westeuropa Alternativgruppen, die gewaltlos ihre Ziele verfolgen und sich dabei z.T. ausdrücklich auf Gandhi und King berufen. Ihre Probleme und… (eine Zeile unleserlich) Kampf gegen Diskriminierungen aus rassischen, religiösen, politischen Gründen, Unzufriedenheit mit bestehenden politischen und sozialen Strukturen über Umweltschutzprobleme bis zu Antimilitarismus-Aktionen.
4.Kennzeichen und Prinzipien der gewaltfreien Aktion
Es soll versucht werden, diese durch Gegenüberstellung von gewaltfreiem Akteur zum Revolutionär im herkömmlichen Sinn zu veranschaulichen.
4.1. Das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck
Zitate von Gandhi und King:
In der bewaffneten Revolution heiligt der Zweck die Mittel. Im gewaltlosen Kampf „ist das Ziel von den Mittel geprägt“. (Gandhi) „Es gibt keinen Weg zum Frieden, wenn nicht der Weg schon der Frieden ist“. (Martin Luther King) „Wir werden niemals Frieden in der Welt haben, bevor die Menschen überall anerkennen, daß Mittel und Zweck nicht voneinander zu trennen sind: denn die Mittel verkörpern das Ideal im Werden, das Ziel im Entstehen, und schließlich kann man gute Zwecke nicht durch böse Mittel erreichen, weil die Mittel den Samen und der Zweck den Baum darstellen“. (Martin Luther King)
4.2. Das Verhältnis zum Gegner
Der klassische Revolutionär rechtfertigt den Haß gegenüber dem Gegner und dessen Diskreditierung. Der Gegner wird zum Feind erklärt, der gedemütigt, verlotzt und letztlich vernichtet werden soll. Der Satjagrahi trennt den Menschen von seinen Taten, das Böse von dem, der das Böse tut. Er achtet Freiheit und Würde des Gegners, übt Widerstand ohne Feindseligkeit. Der Vertreter der Gewaltfreiheit betrachtet den Gegner nicht als Feind. Er versucht, ihn zu beschämen, zu überzeugen, ihn umzustimmen, sein Verständnis zu gewinnen. Damit läßt er die Möglichkeit der Widergutmachung offen und hinterläßt keinen Haß. Der Gewaltlose versucht, die Feindesliebe, die neutestamentliche Agape, zu praktizieren. King sagte: „Wir müssen unsere weißen Brüder lieben, gleichgültig, was sie uns antun“. Diese Haltung wird oft belächelt und die Klarstellung, die King selbst formulierte, verschwiegen: „Wenn wir an dieser Stelle von Liebe sprechen, meinen wir damit nicht irgendein sentimentales oder zärtliches Gefühl. Es wäre Unsinn, wenn wir die Menschen auffordern wollten, ihre Unterdrücker zärtlich zu lieben. Mit Liebe meinen wir in unserem Falle Verstehen, guten Willen, der erlösende Kraft hat. (Zeichen der Zeit S. 46/1965) King zitierte auch gern den um die Jahrhundertwende lebenden Pädagogen und Negerführer Booker T. Washington mit dem Ausspruch: „Laß dich von niemanden so tief hinabziehen, daß du ihn haßt“. 4.3. Weitere Prinzipien und Kennzeichen
Die Revolution braucht eine mitgliederstarke Kampfpartei mit autoritären Führern. In der gewaltfreien Bewegung ist die Verbindung zwischen Führern der Bewegung, einer Partei einerseits und der Bevölkerung andererseits nicht institutionalisiert. Das Individuum kann in Zusammenarbeit mit anderen, ja sogar auf eigene Faust, moralische Kräfte entfalten, die eine Veränderung des geistigen und der Gesellschaft bewirken.
Der Revolutionär gibt sich als loyaler Bürger und arbeitet konspirativ (geheim, im Untergrund) gegen die bestehende Ordnung. Der Satjagrahi lehnt verschwörerische Guerillamethoden ab, arbeitet so weit wie möglich offen, kündigt oft sogar seine Aktionen vorher an.
Der Revolutionär kämpft aus Prinzip bis zum Ende, selbst bis zum bitteren Ende, also auch wenn ihm seine Unterlegenheit bewußt wird. Der Gewaltlose hat den Mut, eine Aktion sofort abzubrechen, wenn Wege zu Abwegen wurden.
Armee und Revolution brauchen nur gesunde Leute mit einem gewissen Mindestalter. In der gewaltfreien Aktion ist Platz für jeden, der mitmachen will. King berichtet von Kindern, Jugendlichen, Behinderten, einem blinden Sänger, die von keiner Armee irgendeines Landes angenommen worden wären, aber in den Reihen der Bürger-rechtsbewegung eine führende Stellung einnahmen. („Warum wir nicht warten können“ S. 42 f, S. 78)
Eine Armee zerfällt in Dienstränge oder Kasten, in der gewaltfreien Aktion ist jeder gleichberechtigt. (s. o. S. 43)
Die Revolution strebt nach der Macht. „Die Gewaltlosigkeit strebt nicht nach der Macht“. (Gandhi) Das Ziel ist nicht der Sieg, sondern Gerechtigkeit und Versöhnung.
Die gewaltlose Bewegung ist sehr flexibel in Bezug auf Zusammenarbeit und Nichtzusammenarbeit mit dem System. Das ist für die Gegenseite schwer begreifbar, muß aber immer wieder deutlich gemacht werden. Konstruktive Mitarbeit, Kritik und kritische Nichtzusammenarbeit können durchaus zusammengehören. Zu den Kennzeichen und Prinzipien der Gewaltfreiheit gehören auch Opferbereitschaft, Verzicht auf Wohlstand, ein Höchstmaß an Zivilcourage, Selbstdisziplin, Selbstachtung und Bereitschaft, ein persönliches Risiko einzugehen, ein Beispiel freiwillig erduldeten Leidens zu geben, wenn nötig, Demütigungen ohne Rache hinzunehmen, Gewalttätigkeiten ohne zurückzuschlagen. „Halte die Augen offen, wende zum Guten, wo du es kannst, halte still, wo du hilflos bist.“
5. Plädoyer für die Gewaltfreiheit (Verteidigung, Rechtfertigung, Begründung)
Wenn man die politische und soziale Weltentwicklung seit 1966 verfolgt, muß man feststellen, daß Gewaltfreiheit auch in der zwischenstaatlichen Politik hin und wieder an verschiedenen Stellen deutlich wird. Bi- und multilaterale Verträge auch zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung enthalten Verpflichtungen zum Gewaltverzicht. 1978 unterbreitete die SU vor der UNO einen Vorschlag für eine internationale Gewaltverzichts-Konvention. Trotzdem regiert in Krisenherden zwischen und innerhalb von Staaten noch immer die Gewalt. Kriege werden seit Jahrhunderten geführt, erforscht, analysiert, taktisch, strategisch, technisch mit unermeßlichem materiellen Aufwand weiterentwickelt und perfektioniert. Heute sind wir damit so weit, daß wir sagen müssen: „Unsere Zukunft ein Paradies oder die Selbstvernichtung der Menschheit“, wie es Prof. Fritz Baade einmal formulierte. Die Gewaltlosigkeit einschließlich der gewaltfreien, nationalen, der sogenannten sozialen Verteidigung stehen erst am Anfang einer Entwicklung … sie sind bisher kaum erprobt und erforscht.Vielleicht könnten sie mit einem Bruchteil der für militärische Aufgaben aufgewendeten Investitionen zu einem für die Zukunft global wirksamen Instrument zur Lösung von Konflikten werden. Der Moskauer Amerika-Korrespondent der „Iswestija“ schreibt in seinem Buch „Martin Luther King“: „Die Antikriegshaltung von Dr. King entsprang dem Pazifismus eines Geistlichen und eines Vertreters der Gewaltlosigkeit. Seine Meinung war, daß in den internationalen Beziehungen des Kernzeitalters die wahre Alternative nicht zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit liege, sondern zwischen Gewaltlosigkeit und Nichtsein.“ Martin Luther Kings Mahnung „Wenn wir es nicht lernen, miteinander als Brüder zu leben, werden wir als Narren miteinander untergehen“ ist heute ernster zu nehmen als je, und wir sollten das wenige, was wir zur Schaffung einer brüderlichen Welt beitragen können, wirklich tun. Dabei muß Effektivität nicht unbedingtes Kriterium sein, schon Zeichensetzung ist wichtig. Durch phantasievolle und erfinderische Versuche könnten Erfahrungen gesammelt werden. Schon das Ausnutzen und Ausloten bestehender Gesetze und Möglichkeiten wird vielfach versäumt. King bezeichnete die Gewaltlosigkeit als „zweckmäßig, vernünftig und moralisch vortrefflich“. Er sagte auch: „Unsere Welt kann vor dem Untergang, auf den sie zustrebt, nicht durch die willfährige Anpassung der konformistischen Mehrheit gerettet werden, sondern nur durch die schöpferische Nicht-Anpassung der nonkonformistischen Minderheit“. Das Mittel für dieses sicher nicht sinnlose Engagement kann die gewaltfreie Aktion sein. Die gewaltfreie Aktion hat auch ihre Grenzen. Zum Beispiel erfordert sie meist lange Zeiträume und hat kaum Aussicht auf Erfolg, wenn man es mit einem Erbarmungslosen, totalitären Gegner zu tun hat. Allerdings ist dann gewaltsamer Widerstand meist auch aussichtslos. Das Beispiel Indien zeigt, daß die Befreiung eines ganzen Volkes ohne Gewalt möglich ist. Indiens Befreiungskampf kostete bei einer Bevölkerungszahl von 350 Millionen 5000 Menschenleben. Dagegen wurden bei der gewaltsamen Befreiung Algeriens mit 12 Millionen Einwohnern 200 000 Menschen getötet. Das ist prozentual gerechnet die 750fache Zahl an Opfern. So ist die Gewaltlosigkeit eine lebensfähige revolutionäre Alternative zur bewaffneten Revolution mit einem Minimum an Blutvergießen. Eine gut geführte zivile Widerstandsbewegung kann einen an Zahl und Macht überlegenen Gegner in Verlegenheit bringen und die öffentliche Meinung mobilisieren. Die gewaltfreie Aktion kann aus der Aussichtslosigkeit und Sinnlosigkeit, von Krieg und Gewalt, aber auch von Gleichgültigkeit und Resignation herausführen. Selbst im persönlichen Bereich läßt sie neue Hoffnung erwachsen und, wie Gollwitzer es ausdrückte, „Resis“ zu „Spontis“ werden.
Georg Meusel
(Das Referat wurde, vor allem im Schlußteil, geringfügig überarbeitet) (1981)
Die Thematik wurde 1979, das die Außerordentliche Tagung des Weltfriedensrates in Berlin zum Martin-Luther-King-Jahr erklärt hatte, anläßlich Kings 50. Geburtstag behandelt.
Nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch (…91123/5-81)
Handschriftliche Ergänzung:
Von Theodor Ebert wurde ein Versuch gemacht, die gewaltfreie Aktion zu systematisieren. Nach dieser Theorie werden die gewaltfreien Aktionsformen grundsätzlich in verneinende und konstruktive, bejahende, schöpferisch unterschieden. (Tabelle). Damit wird zunächst einmal deutlich gemacht, daß es nicht genügt, einen Mißstand anzuprangern oder zu bekämpfen, sondern, daß ihm immer auch eine konstruktive Alternative entgegengesetzt werden sollte.
Für beides, die verneinende und die bejahende gibt es dann drei Steigerungsstufen.
1. Stufe: Protest als Verneinung, das Aufzeigen von besseren Mögl.ichkeiten als Bejahung
Zur 1. Stufe gehören z.B. die BE (Baueinheiten der DDR) Als Beschwerde ist sie die verneinende Form, als Vorschlag formuliert, die bejahende Beides kann wie am Beispiel Soft (Sozialer Friedensdienst) miteinander verbunden sein. Eine Aktion kann aber auch beidesgleichzeitig beinhalten z.B. SOFT-Initiative (Kritik an BE, Vorschlag sozialer Dienst) Eine Gegenstimme oder ungültige Stimme bei einer Wahl wäre verneinend, während Einflußnahme auf die Kandidatenaufstellung eine bejahende Initiative darstellt.
2. Stufe:Legale Nichtzusammenarbeit als Verneinung Legale Rollenübernahme (Erneuerung, Überführung von Erkenntnissen in die Praxis) als Bejahung
Beispiel: Legale Ablehnung des Wehrdienstes als Verneinung Freiwilliger zeichenhafter Friedensdienst im GW (Gesundheitswesen) anschließend an den BS-Dienst (als Bejahung) bejahende zivile Selbstverwalt.
3. Stufe:Verneinende Form: Ziviler Ungehorsam, offene Gesetzesübertretung bejahende: Zivile Selbstverwalt(tung)
B(eispiele): Verneinung: Nichtteilnahme am WU entgegen Schulpflichtgesetz Bejahende, konstruktive Form: verbotene Friedenskunde
Das Referat wurde unter DDR-Bedingungen gehalten, wo ja mit Propagierung des bewaffneten Befreiungskampfes, der bewaffneten Revolution und des gerechten Krieges entgegengesetzte Positionen gelehrt und vertreten wurden. Es wurde u.a. auch zu einem Friedensseminar in Frankenhausen bei Crimmitschau und zu einer Jahrestagung der Aktion Sühnezeichen vorgetragen.
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