Gerd Presler

Nachfolge in Gewaltlosigkeit: Martin Luther King

Mehrfach versuchten Unbekannte, sein Haus in die Luft zu sprengen; oftmals entging er einem Mordanschlag; immer wieder wurde er verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Hundertzwanzigmal mag das geschehen sein. – Die Rede ist von Dr. Martin Luther King jr.: ein Mann mit einem Traum, der doch kein Träumer war; ein Mann, mit dem sich Präsidenten, Gelehrte und Gouverneure nur zu gern zeigten und der doch nicht sicher sein konnte, an der nächsten Imbißbude, im Restaurant oder im Schuhgeschäft bedient zu werden; ein Mann, der mehr als 300 Doktorhüte, Diplome und Auszeichnungen erhielt – bis hin zum Nobelpreis – und der doch unzählige Male als ,,dreckiger Nigger“ angespuckt, getreten und mit Steinen beworfen wurde.

Vor über 70 Jahren, am 15. Januar 1929, wurde Martin Luther King jr. als zweites Kind des Baptistenpredigers Martin Luther King sen. und seiner Ehefrau Alberta in Atlanta (Georgia), im Süden der USA, geboren. Er starb am 4. April 1968, nur 39 Jahre alt, durch einen Gewehrschuß, den ein bezahlter Killer, James Earl Ray, auf ihn abfeuerte.

Viele haben damals geglaubt, nun werde das, was mit ihm begann, was in seiner Person, durch seinen Mund unabweisbar geworden war, vergehen, verschwinden. Das hofften vor allem die, die ihn umbringen ließen – wer immer das war. Aber es kam anders. Es kam nicht so. Sein Tod markierte nicht das Ende dessen, was er gewollt hatte, was durch ihn Form gewann, was sich in ihm glaubhaft und ansteckend verkörperte. Heute wissen wir: Wiewohl tot, lebt er. Ermordet mit 39, wie Dietrich Bonhoeffer, wird ihm – so sieht es jedenfalls aus – die zweite Hälfte seines Lebens – und vielleicht mehr – hinzugefügt.

Als vor einigen Jahren der südafrikanische Bischof Desmond Tutu den Friedensnobelpreis erhielt, da wiederholte sich der Anlaß, die Szenerie und der Inhalt dessen, was 20 Jahre zuvor an gleicher Stelle geschah: Am 10. Dezember 1964 erhielt Martin Luther King jr. den Friedensnobelpreis, weil es ihm gelungen war, den Rassenkonflikt zwischen Weißen und Schwarzen – das Dilemma der USA, wie Gunnar Myrdal es nannte – gewaltlos zu lösen. Geboren in der Glut des Südens und der Bedeutungslosigkeit einer schwarzen Pfarrei, geehrt mit der höchsten Auszeichnung, die die Menschheit vergibt, dreieinhalb Jahre später ausgelöscht, viel zu früh – das sind die großen Stationen eines Lebens, dessen Ausstrahlungskraft, dessen auffordernde Wirkung, offenkundig nachbebt.

Jesse Owens, der unvergessene vierfache Olympiasieger von Berlin 1936, rief, als er die Nachricht von der Ermordung Kings hörte: ,,Das gibt es doch nicht, das darf doch nicht wahr sein. Ist das unsere Welt, die Welt, in der bewundernswerte junge Männer kaltblütig niedergeschossen werden, nur weil sie dafür eintreten, daß jeder die gleiche Chance haben soll ?“

Wie war es möglich, daß ein Mensch solche Gefühle erregte – Gefühle von Verehrung und Liebe, Anerkennung, Respekt und Achtung, Gefühle aber auch tiefen Hasses ? Diese Frage läßt sich beantworten. Martin Luther King jr. setzte ein Recht außer Kraft, auf das jeder Mensch wie selbstverständlich glaubt einen Anspruch zu haben: Das Recht, sich zu wehren, wenn er angegriffen wird; das Recht zurückzuschlagen; das Recht auf Vergeltung.

Es gibt zwei Vorkommnisse im Leben Kings, die seine außergewöhnliche, seine ganz und gar a-normale Haltung in dieser Frage verdeutlichen. Am 30. Januar 1956, abends gegen 21.30 Uhr, warfen Unbekannte eine Bombe auf die Betonveranda des von ihm gemieteten Hauses in Montgomery (Alabama). King war in der Kirche. Seine Frau Coretta, Tochter Jolanda und eine Freundin flüchteten in ein rückwärtiges Zimmer. King, auf den sich der Haß richtete, weil er in einem langen Streik die Busgesellschaft von Montgomery veranlassen wollte, die ungleiche Behandlung von weißen und schwarzen Fahrgästen zu beenden, eilte sofort herbei. Inzwischen hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Die aufgestaute Wut war mit Händen zu greifen. Der Bürgermeister von Montgomery, Gayle, und der Polizeikommissar Clyde Sellers bedauerten das Attentat. C.T. Smiley, der schwarze Rektor der Booker -T. -Washington-Highschool, entgegnete: ,,Daß Sie ihr Bedauern ausdrücken, ist gut und schön, aber Sie sind verantwortlich. Sie haben das Klima für so etwas geschaffen.“ Inzwischen wuchs die Menge der entsetzten und empörten Schwarzen ständig an. Es wurden Anschuldigungen gegen die Polizei laut. Da trat M.L. King jr. auf die zerstörte Veranda. Alle spürten den Augenblick äußerster Entscheidung. Sein Haus war soeben angegriffen worden; seine Frau und sein Kind hätten getötet werden können. Ernst und gefaßt stand er vor der wütenden Menge: ,,Meiner Frau und meinem Kind ist nichts passiert. Bitte, geht nach Hause ! Legt die Waffen weg ! Wir können dies Problem nicht durch Vergeltung lösen. Wir müssen der Gewalt mit Gewaltlosigkeit begegnen. Wir müssen unsere weißen Bruder lieben, gleichgültig, was sie uns antun. Und Jesus ruft uns über die Jahrhunderte hinweg zu: Liebet eure Feinde ! Dies müssen wir leben. Wir müssen Haß mit Liebe vergelten.“ Viele weinten. Sie riefen: ,,Amen“ und ,,Gott segne Dich“. Dann zerstreute sich die Menge. Man hörte die Stimme eines weißen Polizisten: ,,Ohne den Nigger-Prediger wären wir jetzt alle tot.“

Es war ihm ernst mit dem, was er hier vorbrachte. Am 19. September 1958 signierte M. L. King jr. im Kaufhaus Blumenstein an der 125. Straße in Harlem sein gerade erschienenes Buch. Mrs. Isola Curry, eine 42jährige Schwarze, drängte sich zu ihm durch. ,,Sind Sie Dr. King ?“ Als er bejahte, rief sie: ,,Seit fünf Jahren bin ich hinter dir her“, und stieß ihm einen scharfen japanischen Brieföffner in die Brust. Später fand man bei ihr noch einen geladenen Revolver. Die Genesung Kings verlief nach einer schweren Operation ohne Komplikationen. Und wieder leuchtete etwas auf von dem neuen Geist, aus dem sich das Denken und Handeln des Baptistenpredigers aus Montgomery speiste. Er bat öffentlich für Frau Curry: ,,Diese Frau braucht Hilfe. Sie ist nicht verantwortlich für die Gewalt, die sie gegen mich gebraucht hat. Tut ihr nichts. Bringt sie nicht vor Gericht. Sie braucht keinen Richter; sie braucht einen Arzt.“

Zweifellos war M. L. King jr. ein ungewöhnlicher Mensch. Aber er stand nicht außerhalb der Gefühle und Empfindungen, die menschliches Handeln lenken. Zweifellos ist die Geschichte des Menschen eine Geschichte der Gewalt; und wiewohl eine unendliche Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und Einverständnis in ihm wohnt, greift er doch immer zuerst nach ihr, um seine Probleme zu lösen. Bisher ist es nicht gelungen, ihn von diesem Wege abzubringen und ihm das Zeichen des Kam von der Stirn zu wischen. Es gibt viele, die dem Menschen die Fähigkeit absprechen, ohne Gewalt zu leben. Friedrich Hacker, ein führender amerikanischer Mediziner, scheut sich nicht, den Menschen ,,eine entfesselte Bestie ohne Tötungshemmung“ zu nennen. Man findet bei den meisten höheren Säugetieren viel Gezänk, Streiterei und Drohgebaren, aber nur wenige blutige und tödliche Kämpfe. Den eigenen Artgenossen umbringen – das tut kein Affe; das ist dem Menschen vorbehalten. Man muß es einmal so deutlich sagen: Gewalt gehört zur Grundausstattung des Menschen. Schon immer waren die Menschen von ihr fasziniert, und diese Faszination schlug um in Nachahmung, nicht in Schrecken und Abscheu. Jede Gesellschaft, jede Zeit – auch die unsere – schuf sich das Instrumentarium zu quälen, zu töten. Niemand bestreitet das. Diese Analyse des Menschen ist richtig – und Martin Luther King jr. kannte sie. Er machte sich keine Illusionen. ,,Wir haben gelernt, wie die Vögel zu fliegen und wie die Fische zu schwimmen. Doch wir haben nicht gelernt, in Frieden miteinander zu leben.“ M. L. King jr. kannte die Natur des Menschen. Aber er resignierte nicht vor dieser Unabänderbarkeit. Der Mensch ist seiner schlimmen, zerstörerischen Veranlagung nicht hilflos ausgeliefert. Es gab überwältigende Beispiele, die das bewiesen, und für King jr. waren Jesus aus Nazareth und Mahatma Gandhi diejenigen, die einen anderen Weg beschritten hatten. Gewaltlos die Konflikte in kleinen Gemeinschaften – wie Familie und Schule – und in großen – wie Staaten, Ländern, Nationen, Völkern und Erdteilen – zu lösen, erfordert nicht nur ein Umdenken, es erfordert ein Umhandeln, das eingeübt werden muß – am besten von Kindheit an. Gewaltlosigkeit ist dem Menschen von der Natur nicht mitgegeben. Er ist – wie gesagt – anders. Aber er kann die Gewaltlosigkeit lernen. Sie kann seine zweite Natur werden. King hat das praktiziert – nicht nur gedacht, geplant. Und er konnte viele dazugewinnen. Sein gewaltsamer Tod ist die Aufforderung, diesen begonnenen Weg fortzusetzen.

Den entscheidenden Anstoß erhielt King während seines Studiums: ,,Ich fuhr eines Sonntagnachmittags nach Philadelphia, um Dr. M. Johnson, den Vorsitzenden der Howard-University zu hören. Er war gerade von einer Reise nach Indien zurückgekehrt und sprach zu meiner großen Freude über das Leben und die Lehre von Mahatma Gandhi. Seine Botschaft war so tiefgründig und begeisternd, daß ich nach der Versammlung ein halbes Dutzend Bücher über Gandhis Leben und Werk kaufte. Wie die meisten Leute hatte ich von Gandhi gehört, hatte ihn aber nie ernsthaft studiert. Als ich nun die Bücher las, war ich fasziniert von seinen Feldzügen gewaltlosen Widerstandes. … In seiner Lehre von der Liebe und der Gewaltlosigkeit entdeckte ich die Methode für eine Sozialreform. Ich kam zu der Überzeugung, daß für ein unterdrücktes Volk in seinem Kampf um die Befreiung die Gewaltlosigkeit die einzig moralisch und praktisch vertretbare Methode war.“ King erfaßte, als er Gandhi las, was Jesus aus Nazareth gemeint hatte: ,,Zeigt euren Feinden, daß ihr sie liebt ! Bittet Gott um seine Liebe für die, die euch verfolgen !“

Anfang 1952 lernte er dann den Menschen kennen, der ihn in all dem Schweren, das ihm auferlegt werden sollte, nie allein ließ, eine ungewöhnliche Frau: Coretta Scott. Sie heirateten 1953, und sie blieb ihm, solange er lebte, der Halt, die Stütze, ohne welche er wohl kaum durchgehalten hätte: Anklage und Verurteilung, Gefängnis und Angst, Niedergeschlagenheit und Triumph. Coretta Scott-King ist bis heute seine treueste Erbin.

Als King 1955 das Podium der Weltgeschichte betrat, ungewollt, zögernd, da dauerte die Tragödie des schwarzen Menschen in Amerika schon 360 Jahre: Ein Kapitel voller Dunkelheiten und wert, nicht vergessen zu werden. 1619 hatte das erste Sklavenschiff in Jamestown (Virginia) angelegt. Es begann eine Kette voller Unterdrückung und Gewalt, Rechtlosigkeit, Segregation. Den schwarzen Amerikanern blieb versagt, als Mensch ,,von seinem Schöpfer mit gewissen, unveräußerlichen Rechten ausgestattet“ zu sein, ,,darunter das Recht auf Leben, Freiheit und das Verlangen nach Glück“. So hatte es die amerikanische Verfassung seit dem 4. Juli 1776 zugesagt – aber nicht den Schwarzen. Sie galten nicht als Menschen.

Diese Rechte einzufordern, stand im Mittelpunkt aller Bemühungen, die King unternahm. In seiner berühmten Rede vom 28. August 1963 vor mehr als 250.000 Menschen in Washington hielt er mit den Worten daran fest: Ihave a dream – ,,Ich habe einen Traum. Das Leben des Negers in den USA ist immer noch verkrüppelt durch die Fesseln der Rassentrennung und die Kette der Diskriminierung. Der amerikanische Neger lebt immer noch auf einer einsamen Insel der Armut inmitten eines riesigen Ozeans materiellen Reichtums. Immer noch schmachtet der Neger am Rande der amerikanischen Gesellschaft und befindet sich im eigenen Land im Exil. Als die Architekten unserer Republik die großartigen Worte der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung schrieben, unterzeichneten sie einen Schuldschein, zu dessen Einlösung alle Amerikaner berechtigt sein sollten … Es ist heute offenbar, daß Amerika seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist.“ Dann sprach King von den Konsequenzen: ,,Was wird aus dieser zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit werden ? Auf welchem Wege werden die Benachteiligten, die, denen man den Nagelschuh in den Nacken setzt, um sie tiefer und tiefer in den Dreck zu drücken, welchen Weg werden sie gehen ?“ Und dann gab er die Richtung an: ,,Während wir versuchen, unseren rechtmäßigen Platz zu gewinnen, dürfen wir uns keiner unrechten Handlung schuldig machen. Laßt uns nicht aus dem Kelch der Bitterkeit und

des Hasses trinken, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen. Wir dürfen unseren schöpferischen Protest nicht zu physischer Gewalt verkommen lassen … In all den Schwierigkeiten habe ich einen Traum. Ich habe den Traum, daß eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen. Ich habe den Traum, daß meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach der Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu meißeln. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, zusammen zu arbeiten, zusammen zu beten, zusammen zu kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, weil wir wissen, daß wir eines Tages frei sein werden.“

Martin Luther King jr. hatte einen Traum; aber er war kein Träumer. Er verfolgte erreichbare, realistische Ziele in kleinen Schritten. Er überforderte niemanden. Aber mit der Kraft eines alttestamentlichen Propheten wies er seine Gegenwart an, ihre Schulden zu bezahlen, damit die Schuld verkleinert werde. Niemals forderte er dazu auf, das an den Schwarzen in dreieinhalb Jahrhunderten begangene Unrecht zu sühnen. Er verwarf die ,,Lösung“, in der der Unterdrückte sich erhebt, um seinen Anspruch auf ein besseres Leben mit Gewalt zu erringen. Diesem Weg liegt das Prinzip zugrunde: ,,Auge um Auge“. Nach Kings fester Überzeugung blieben hier jedoch nur Blinde zurück. ,,Aus Gewalt“, so rief er, ,,ergibt sich kein dauerhafter Friede, weil Gewalt den Gegner demütigt, statt ihn zu gewinnen … Sie macht die Überlebenden bitter; die Zerstörer verrohen, werden brutal.“ King kannte die furchtbaren Folgen der Gewalt für die Opfer – und für die Peiniger. Und er wußte, daß die amerikanische Gesellschaft die Gewalt eher anbetete und verherrlichte als ablehnte. Deshalb, wegen der entwürdigenden Rotation von Gewalt und Gegengewalt, gewaltsamer Unterdrückung und gewaltsamer Befreiung, entschied sich King mit Blick auf Jesus aus Nazareth und Mahatma Gandhi für die Methode der Gewaltlosigkeit. Er nannte sie asymmetrisch: Auf den Schlag folgt nicht der Gegenschlag, auf Haß nicht Haß, sondern Liebe. Gewalt ist auf Unterwerfung aus, sie will Verhöhnung; Gewaltlosigkeit will Versöhnung. Wer Gewaltlosigkeit als Mittel der Konfliktlösung zwischen Menschen praktiziert, der läßt es nicht ,,darauf ankommen“. Vielmehr möchte er der Gewalt ,,zuvor kommen“, dem Gegner ,,entgegenkommen“. Der Gewaltlose schlägt nicht zurück; er schlägt vielmehr etwas ,,vor“, das der andere mittragen kann – als ersten Schritt und Anfang einer bis dahin nicht gesehenen Gemeinsamkeit. Gewaltlosigkeit ist nicht Passivität, Geschehenlassen. Der Gewaltlose greift seinen Gegner nicht an; er scheint passiv. Zugleich sind aber seine Gefühle und Handlungen äußerst aktiv. Er versucht ständig, den anderen zu überzeugen.

Konkret hieß das: Wie Gandhi wies King auf bestehendes Unrecht hin, indem er es ans Licht hob, dramatisierte. Wenn eine Firma oder eine Bank keine Schwarzen einstellte, oder nur in den untersten Lohngruppen, dann forderte er alle Schwarzen der Stadt auf, die Firma zu meiden, die Bankguthaben abzuheben. Als die Stadt Birmingham ein Sozialprogramm für die Ärmsten der Armen – und Schwarze waren überproportional vertreten – ablehnte, also bessere Wohnungen, Schulen, Arbeitsplätze, besseren Schutz bei Krankheit verweigerte, übertrat King bewußt geltendes Recht, ließ sich ins Gefängnis werfen. Tausende folgten. Sie legten den Justizvollzug lahm – und sie legten einen beschämenden Zustand bloß. Ein wesentliches Moment in der Praxis der Gewaltlosigkeit, wie King sie verstand, war, daß der, der sich ihr verschrieb, bereit sein mußte zu leiden. ,,Vielleicht müssen Ströme von Blut fließen, aber es muß unser Blut sein“, hatte Gandhi denen gesagt, die mit ihm zogen. M. L. King jr. nahm diese neutestamentliche Erkenntnis auf. Stanley Levison und Harry Belafonte, der schwarze Sänger, haben es bestätigt: ,,Wir, die wir ihn kannten, erinnern uns nicht an ein einziges Mal, da er ein Wort des Hasses gegen jemanden geäußert hätte.“ Vielleicht geht es wirklich nur so, daß einer bereit sein muß, das Verhältnis zwischen Menschen ganz anders zu gestalten. M. L. King wendete die neutestamentliche Lehre ,,Wenn dir jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke Wange hin“ (Mt 5,39) konsequent an. Er war nicht bereit, mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Er zerriß die Kette, nach der aus bösen Taten immerfort böse Taten hervorgehen müssen. Er setzte einen Neuanfang, auch um den Preis des höchsten Opfers: Des Lebens. Er wollte eine Gemeinschaft der Versöhnten – King sprach gern vom Haus der Welt: ,,Das ist das große, neue Problem der Menschheit. Wir haben ein großes Haus geerbt … in dem wir zusammen leben müssen – Schwarze und Weiße, Morgen-länder und Abendländer, Juden und Nichtjuden, Katholiken und Protestanten, Moslems und Hindus – eine Familie, die irgendwann lernen muß, in Frieden miteinander auszukommen.“ Das erinnert sehr an Paulus, der im Galaterbrief schrieb: ,,Hier ist nicht Jude noch

Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28).

Ist das Utopie – Nirgendort ? Nebulose Phantasie ? King meinte:

,,Wir stehen heute noch vor der Wahl: Gewaltloses Miteinander oder gewaltsame Vernichtung aller. Dies kann die letzte Chance der Menschheit sein, zwischen dem Chaos und der Gemeinschaft zu wählen.“

Wenn sich (seit 1986) an jedem dritten Montag im Januar die USA mit einem nationalen Feiertag dieses Mannes vergewissern, dann knüpfen sie an die besten Grundsätze ihrer Verfassung an. Das sollten wir auch tun.

Prof. Dr. Gerd Presler, Weingarten, Pädagogische Hochschule Karlsruhe

Literaturhinweise

Martin Luther KING JR., Schöpferischer Widerstand, Gütersloh 1980
Martin Luther KING SEN., Die Kraft der Schwachen. Geschichte der Familie King, Gütersloh 1982
Gerd PRESLER, Martin Luther King (rororo-Bildmonographie 333), Reinbek 1992, 10. Aufl. 1999