„Es ging seinen Gang“
Kritische Literatur in der DDR
„Immer wieder waren Bücher imstande, Unruhe zu erzeugen oder in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einzugreifen“, beschrieb es der einstige DDR-Schriftsteller Jurek Becker zutreffend. Die DDR, die sich selbst gern als „Leseland“ bezeichnete, sah sich offiziell in der Nachfolge der großen Dichter und Denker. Dennoch war die Angst vor dem geschriebenen Wort groß. Angesichts ihrer vermuteten subversiven Kraft stand die Literatur deshalb unter besonderer Vormundschaft der Partei. Um ihren Führungsanspruch durchzusetzen, bediente sich die SED des aufwendig und umfangreich organisierten Systems der „literarischen Zensur“. Ausschlaggebend waren hier oft tagesaktuelle kulturpolitische Erwägungen der Staatspartei, deren Kurs im Literatursektor durchaus schwankend war.
Den Literaten wurde von Staats wegen eine Schlüsselrolle zuerkannt, sei es die von Vor- und Nachsprechern der offiziellen Doktrin, sei es die gegensätzliche von „gefährlichen“ Oppositionellen.
Obwohl sich viele der Autoren als Sozialisten verstanden, kontrastierten sie Schein und Sein, Anspruch und Wirklichkeit des realexistierenden Sozialismus im Rahmen der gegebenen Grenzen, die sowohl durch die herrschende Doktrin als auch vom Bewusstsein des jeweiligen Autors bestimmt wurden.
Die Autoren sollten ihre literarischen Werke im Stil des „Sozialistischen Realismus“ schaffen. Bei der Reflexion der Probleme und Schwierigkeiten im gesellschaftlichen Leben der DDR erhielten die Schriftsteller schnell ein staatsfeindliches Etikett. Für sie war es schwierig, den schmalen Grat zu finden zwischen dem Mut, die Wahrheit zu schreiben, und der Unmöglichkeit, alles schreiben zu dürfen.
Wer gegen die „Spielregeln“ verstieß, war staatlicher Repression ausgeliefert, die u.a. Publikationsverbot, Inhaftierung oder die erzwungene Ausreise in den Westen zur Folge haben konnte.
Die Ausstellung greift dieses Spannungsfeld, in der sich die Autoren im Rahmen der durch die DDR-Kulturpolitik gegebenen Grenzen bewegen konnten, exemplarisch auf. Dabei bezieht sich der Titel „Es ging seinen Gang“ allegorisch auf den Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ (1978) von Erich Loest, der zu den wichtigsten Werken kritischer DDR-Literatur gehört. Der Roman sagt gleichzeitig Wesentliches über die gesellschaftliche Verfassung als Ganzes sowie über den historischen Prozess, in dem die Entstehung des Buches erfolgte, aus. „Das Gelbe Buch“ (wegen seines Covers so genannt) traf den Nerv der Zeit und viele waren überrascht, dass dieser Roman die Zensurhürde genommen hatte.
Für ihre Leser erfüllte die systemkritische Literatur anstelle der unterbundenen Presse- und Medienöffentlichkeit die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit. Sie bildete Grundlage und Freiraum für ihr argumentatives und moralisches Verhalten und Handeln gegenüber Staat und Partei.
Kritische und verbotene Literatur wurde heimlich abgetippt oder abfotografiert, hektographierte Texte sowie im Ausland gedruckte Bücher oder unveröffentlichte Manuskripte von verfemten Dichtern und Dissidenten gingen von Hand zu Hand oder wurden auszugsweise im Samisdat abgedruckt. In Wohnungen, kirchlichen Räumen und Galerien wurden Lesungen mit missliebigen Autoren organisiert. Zahlreiche Umwelt- und Friedensbibliotheken mit schwer zugänglicher und verbotener Literatur entstanden.
Viele der Schriftsteller avancierten zu Repräsentanten der Allgemeinheit und zu Stellvertretern der öffentlichen Meinung.
Im Herbst 1989 mischten sie sich in das revolutionäre Geschehen ein, sprachen auf Demonstrationen oder verfassten Resolutionen. Mit dem politischen Zusammenbruch zerfiel auch das literarische System. Es entstand eine völlig neue Situation für Autoren und Leser. Beide mussten sich neu orientieren.
Die umfasst 20 Rollup-Tafeln (85×218 cm).