Heinrich W. Grosse: „I Still Have A Dream“

»I Still Have A Dream« – Martin Luther King und seine Bedeutung für uns heute

16. Januar 1999

Referat zum 70. Geburtstag Martin Luther Kings für das Symposium des Martin-Luther-King-Zentrums Werdau ”Gewaltfreiheit gestern – heute – morgen” am 16.01.99 und für die Evangelische Fachhochschule Hannover am 18.01.99.

fast to dreams
for if dreams die
life is a broken-winged bird
that cannot fly.
Hold fast to dreams
for when dreams go
life is a barren field
frozen with snow
.
(Langston Hughes, Harlem/ New York City)

Am 4. April des vergangenen Jahres jährte sich zum 30. Mal der Tag, an dem Martin Luther King ermordet wurde. Im Frühjahr 1968 hatte sich King mit einem Streik unterbezahlter schwarzer Arbeiter der städtischen Müllabfuhr in Memphis/Tennessee solidarisiert. Als er gerade Kirchenlieder für eine Massenversammlung am Abend des 4. April besprach, wurde er von weißen Rassisten erschossen. King starb 39jährig; am 15. Januar dieses Jahres wäre er 70 Jahre alt geworden.
King wurde zu einem Zeitpunkt umgebracht, an dem seine Popularität auf einen Tiefpunkt gesunken war. Er gehörte nicht mehr zu den zehn am meisten bewunderten Personen in den USA. Der einst als ”Apostel der Gewaltlosigkeit” hofierte Friedensnobelpreisträger wurde in seinen letzten beiden Lebensjahren für viele zur ”unerwünschten Person”. Denn er hatte im Kampf für die Rechte Benachteiligter die Gesellschaft bzw.Politiker der USA scharf kritisiert und massive Aktionen zivilen Ungehorsams befürwortet.
Heute wird derselbe Martin Luther King in den USA offiziell als Nationalheld gefeiert. Seit 1986 wird dort (jeweils am Montag nach seinem Geburtstag am 15. Januar) ein Martin-Luther-King-Feiertag begangen. King zählt zu jenen zehn Menschen, die als ”christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts” mit einer Statue in der Londoner Westminster-Abtei geehrt wurden. Auch in unserem Land gibt es viele öffentliche Einrichtungen, die Kings Namen tragen. Bei einer Umfrage im vergangenen Jahr nannten 58% der befragten Deutschen Martin Luther King als Vorbild. (Nur Albert Schweitzer lag bei dieser Befragung knapp vor King.) Ein Pfarrer aus der DDR schrieb mir am 9.November 1989: ”Jetzt ist endlich die Mauer überflüssig. Einer meiner Söhne war seit dem 2. Oktober jeden Montag in Leipzig dabei. Ich denke, Martin Luther King hat als Vorbild manchen begleitet.”
Freilich steht die Erinnerung an King gelegentlich in der Gefahr, Klischees zu fördern. So führt das Klischee vom ”gewaltlosen Märtyrer” oft dazu, Kings politische Perspektiven zu verkürzen und seine bleibende Herausforderung an uns zu verharmlosen. Da ist dann wenig zu merken von einer ”gefährlichen Erinnerung” (J.B.Metz).
So müssen auch wir uns fragen: An welchen Martin Luther King erinnern wir uns? Lassen wir uns von ihm aus gewohnten Denk- und Handlungsmustern herausfordern? Blicken wir auf sein Werk bewundernd, aber eben doch wie auf Vergangenes zurück? Oder inspiriert er uns zu mutiger Zeitgenossenschaft inmitten der bedrängenden Probleme unserer Gegenwart?
Doch zunächst will ich auf die Frage eingehen: Wer war Martin Luther King, jr.? Am 15. Januar 1929 wurde er als Sohn des schwarzen Baptistenpfarrers Martin Luther King, Sr. und seiner Frau Alberta Williams King in Atlanta/Georgia geboren. Obwohl er eher behütet in einem vergleichsweise wohlhabenden Elternhaus aufwuchs, identifizierte er sich von Jugend auf mit dem Schicksal der Mehrheit seiner schwarzen Schwestern und Brüder. Er erhielt eine Ausbildung, die nur wenigen Afro-Amerikanerinnen zugänglich war. Von 1948 bis 1954 studierte er Theologie an Universitäten im Norden der USA.
1954 – im Alter von 25 Jahren – übernahm er ein Gemeindepfarramt in Montgomery/Alabama. (Er entschied sich damit gegen eine ihm mögliche Universitätskarriere.) Bereits im folgenden Jahr sah sich King – dessen Beschäftigung mit Pazifismus und Gewaltlosigkeit bis zu diesem Zeitpunkt rein theoretischer Natur gewesen war – vor eine ungewöhnliche Herausforderung gestellt, als es in der von Rassismus geprägten Stadt Montgomery im Dezember 1955 zu einem spontanen Busboykott kam. Die gedemütigten Schwarzen waren nicht länger bereit, schikanöse Behandlung in städtischen Bussen zu erdulden. Sie weigerten sich, nur auf den hinteren Sitzen Platz zu nehmen und gegebenfalls auch diese für Weiße räumen. Der in Montgomery damals noch wenig bekannte Pastor King wurde zum Präsidenten des Boykottkomitees gewählt. Für ihn sprach, daß er in den Augen der weißen Bürgerinnen politisch ein ”unbeschriebenes Blatt” war.
Doch bald erlangte King als Sprecher der gewaltlosen Bürgerrechtsbewegung nationale Bekanntheit. Als sein Haus von Weißen bombardiert wurde, beschwor er seine schwarzen Leidensgenossen: ”Wir müssen der Gewalt mit Gewaltlosigkeit begegnen. Denkt an die Worte Jesu: ,Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.’. Jesus ruft uns auch heute über die Jahrhunderte hinweg zu:,Liebt eure Feinde!’ Das müssen wir leben.” King, der wie die meisten Bürgerinnen seines Landes Waffen zur Selbstverteidigung besaß (und der – vergeblich – um die Erlaubnis gebeten hatte, eine Schußwaffe im Auto mit sich zu führen), beschloß nun, alle Waffen aus seinem Haus zu verbannen.
Die Schwarzen hielten den Boykott trotz massiver Einschüchterungen und unter großen persönlichen Opfern ein Jahr lang durch. Sie erreichten schließlich die Aufhebung der Rassentrennung in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt. Der Busboykott bildete den Anfang einer Bürgerrechtsbewegung, die sich über alle Südstaaten ausbreitete. Die Mehrzahl der Bürgerrechtlerinnen stammte aus schwarzen Kirchgemeinden. Ihr Ziel – die Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen – versuchten sie mit gewaltlosen Mitteln zu erreichen: durch Demonstrationen, Sit-ins, Gebetswachen, Geschäftsboykotts und die Überfüllung der Gefängnisse. In ihren Kirchen übten sie gewaltfreien Widerstand ein, oft mit Hilfe eines Soziodramas.
King interpretierte Gewaltlosigkeit als ”Christentum in Aktion”. ”Der Geist und die Beweggründe” – so King – ”kamen von Christus, während die Methode von Gandhi kam.” ”Gandhi war wahrscheinlich der erste Mensch in der Geschichte, der Jesu Ethik der Liebe über die bloße Wechselwirkung zwischen einzelnen Menschen hinaus zu einer wirksamen sozialen Macht im großen Maßstab erhob.”
In seinem Rückblick auf den Busboykott von Montgomery hat King Grundaspekte gewaltloser Aktion benannt:
1.) ”Gewaltloser Widerstand ist keine Methode für Feiglinge. Es wird Widerstand geleistet. Wenn jemand diese Methode anwendet, weil er Angst hat oder weil ihm die Werkzeuge zur Gewaltanwendung fehlen, handelt er in Wirklichkeit gar nicht gewaltlos.”
2.) Gewaltloser Widerstand will ”den Gegner nicht vernichten oder demütigen. .. Das Ziel ist .. Aussöhnung.”
3.) Zum gewaltlosen Widerstand gehört ” die Bereitschaft, Demütigungen zu erdulden, ohne sich zu rächen, Schläge hinzunehmen, ohne zurückzuschlagen. ..
Unverdientes Leiden erlöst. Im Leiden liegt eine gewaltige erzieherische und umwandelnde Kraft.”
4.) Der gewaltlose Widerstand gründet auf der ”Überzeugung, daß das Universum auf der Seite der Gerechtigkeit steht. Infolgedessen hat, wer an Gewaltlosigkeit glaubt, einen tiefen Glauben an die Zukunft.”
1960 wurde King Hilfspfarrer an der Kirche seines Vaters, der Ebenezer Baptist Church in Atlanta. Er hatte nun mehr Zeit für sein Engagement in der Bürgerrechtsbewegung.
Auf den Busboykott von Montgomery folgten viele gewaltlose Aktionen in anderen Städten im Süden der USA. Berühmt wurden die Kampagnen, die die von King geleitete ”Southern Christian Leadership Conference” (SCLC – ”Christliche Leitungskonferenz in den Südstaaten”) während der Jahre 1961 – 1965 in Albany, Birmingham und Selma durchführte. Ihr Ergebnis: In öffentlichen Einrichtungen war die Rassentrennung weitgehend aufgehoben. Die Zahl wahlberechtigter Afro-Amerikanerinnen hatte bedeutsam zugenommen. Vor allem hatten viele von ihnen ein neues Selbstbewußtsein gewonnen, gleichsam den ”aufrechten Gang” erlernt.
1964 – als 35jähriger! – erhielt King den Friedensnobelpreis. In seiner Dankesrede sagte er: ” Gewaltlosigkeit ist die Antwort auf die entscheidende politische und moralische Frage unserer Zeit – die Notwendigkeit, daß der Mensch Unterdrückung und Gewalt überwindet, ohne zu Unterdrückung und Gewalt Zuflucht zu nehmen.”
Die Anwendung gewaltloser Methoden verstand King als Befreiung von dem Zwang, die herrschenden Werte der Gesellschaft, in der er lebte, bzw. der westlichen Industrienationen zu imitieren. Es ging ihm um die Durchbrechung des Gewaltzirkels. Er hoffte, mit gewaltlosen Aktionen den Gegner in einen politischen Lernprozeß einzubeziehen. Immer wieder betonte er: Gewaltlosigkeit soll die Befreiung der Unterdrückten wie der Unterdrücker bewirken.
Weil das Eintreten für Gewaltlosigkeit oft als naiv belächelt wird, möchte ich betonen: King war keineswegs ein naiver, ”gesinnungsethischer” Träumer. Er war nicht blind im Blick auf die institutionalisierte Gewalt, die Gewalt der bestehenden Verhältnisse. So wies er darauf hin, daß auch die Existenz von Ghettos oder Arbeitslosigkeit eine Form von Gewalt gegenüber den Betroffenen darstelle. Scharf kritisierte er Politiker, die, während sie den Vietnamkrieg unterstützten, schwarze Ghetto-Bewohner zu Gewaltlosigkeit mahnten. Wer Gewaltlosigkeit beschwört, um bestehende Gewaltverhälnisse gegenüber kritischen Minderheiten zu verteidigen, kann sich nicht auf Martin Luther King berufen!
1967 erklärte King in einer Weihnachtspredigt: ”Wir haben die Bedeutung der Gewaltlosigkeit in unserem Kampf um Rassengerechtigkeit in den USA erprobt, nun aber .. ist die Zeit gekommen, Gewaltlosigkeit in allen Bereichen menschlicher Konflikte zu erproben, und das bedeutet Gewaltlosigkeit auf internationaler Ebene.”
Ich finde, diese Überzeugung ist für uns in Deutschland von besonderer Aktualität. Setzte unsere Politik in den letzten Jahren nicht immer stärker auf ”Konfliktlösung” mit militärischer Gewalt? Wurden nicht sog. humanitäre Einsätze zynisch dazu benutzt, uns an immer mehr ”out-of-area”-Einsätze der Bundeswehr zu gewöhnen? Sprechen nicht immer mehr Politiker der westlichen Industrienationen vom Führen ”gerechter Kriege”? King hat mit seinem Plädoyer für Gewaltlosigkeit auch auf internationaler Ebene einen Weg vorgezeichnet, der der Tendenz zur Remilitarisierung der Außenpolitik diametral entgegensetzt ist: den Weg der Rückkehr von militärischen zu (rechtzeitig angewandten!) politischen Mitteln der Konfliktlösung.
Es gibt m.E. noch weitere Aspekte der Gewaltlosigkeit Kings, die für uns im gegenwärtigen Deutschland bedeutsam sind:
In unserem Land gibt es, wenn ich es richtig sehe, eine verbreitete und manchmal fast ”schicke” Staats- und Politikverdrossenheit, die viele in dem Gefühl bestärkt: ”Man kann ja sowieso nichts machen.” Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen als nicht veränderbar. Apathie, Resignation, Wahlenthaltung, Rückzug ins Private sind die Reaktion vieler; Minderheiten setzen auf Gewalt.
King und seine Mitstreiterinnen stehen für die Erfahrung: Wo Menschen sich zusammenfinden, um in gewaltlosen direkten Aktionen Widerstand gegen Unrechtszustände zu leisten und so Konflikte öffentlich machen, da können sie – auch als Minderheit – verändernd wirken. Natürlich bewahrt sie das nicht vor Erfahrungen des Scheiterns. Aber wir sollen und brauchen uns nicht verhärten zu lassen in dieser harten Zeit! Wir sollen und können uns einmischen in die Konflikte unserer Zeit, um dem Ziel größerer Gerechtigkeit näherzukommen.
Die von King präsentierte Bewegung hat sich stets auf Grundrechte und Verfassungsprinzipien berufen, die in der US-amerikanischen Verfassung enthalten sind. ”Be trute to what you said on paper!” (”Macht wahr, wozu Ihr Euch schriftlich bekannt habt!”) rief er seinen weißen Landsleuten zu. Ich bin überzeugt: Wir können von King lernen, wenn wir einen ”Verfassungspatriotismus” entwickeln, der uns einerseits davor bewahrt, die Grundlagen unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung und unseres Rechtsstaates geringzuachten, und der uns andrerseits ermutigt, verfassungsrechtlich verankerte Menschen- und Grundrechte auch wirklich einzufordern bzw. zu verteidigen.
Wenn wir nach der Aktualität des Kingschen Erbes für uns fragen, reicht es nicht, sich an seine Grundsätze und Methoden schöpferischer Gewaltlosigkeit zu erinnern. Wer heute – über 30 Jahre nach Kings Tod – nach seiner Bedeutung für uns fragt, darf die Äußerungen und Aktionen des ”späten” King der Jahre 1966-1968 nicht ausblenden. Andernfalls wird aus King leicht ein harmloser ”Apostel der Gewaltlosigkeit”, ein von vielen Interessen vereinnahmter ”Heiliger”.
Was unterschied den ”späten” King der Jahre 1966-1968 vom ”frühen” King der Jahre 1955 bis 1965?

Als King nach schweren Ghettounruhen im Jahre 1965 eine Bilanz des ersten Jahrzehnts der Bürgerrechtsbewegung zog, mußte er feststellen: Die Situation der Afro-Amerikanerinnen in den Ghettos der Großstädte, vor allem im Norden der USA, hatte sich verschlechtert. An ihrer wirtschaftlichen Benachteiligung, an der hohen Arbeitslosigkeit und der katastrophalen Wohn- und Schulsituation in den Ghettos hatte die Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen wenig oder gar nichts ändern können. Die bewährten gewaltlosen Methoden blieben hier weitgehend wirkungslos.

King verlagerte nun das Schwergewicht seiner Kritik vom Rassismusproblem auf das Problem der Armut. Er war sich darüber im klaren, daß das Problem der Armut internationale Dimensionen hat. ”Wir im Westen müssen uns vor Augen halten, daß die armen Länder vor allem deshalb arm sind, weil wir sie durch politischen oder wirtschaftlichen Kolonialismus ausgebeutet haben.” King forderte deshalb eine ”Revolution der Werte” in den westlichen Industrienationen. ”Wir müssen schnell damit anfangen, von einer sach-orientierten Gesellschaft zu einer person-orientierten Gesellschaft zu kommen. Wenn Maschinen und Computer, Profitbestrebungen und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als Menschen, wird das gigantische Trio von Rassenwahn, Materialismus und Militarismus nicht mehr besiegt werden können. .. Gewiß ist es unsere Verpflichtung, die Rolle des barmherzigen Samariters für alle diejenigen zu übernehmen, die am Wege liegengeblieben sind. Aber das ist nur ein Anfang. Eines Tages müssen wir begreifen, daß die ganze Straße nach Jericho geändert werden muß, damit nicht fortwährend Männer und Frauen geschlagen und ausgeraubt werden, während sie sich auf ihrer Lebensreise befinden. .. Eine echte Revolution der Werte wird den schreienden Gegensatz von Armut und Reichtum mit großer Unruhe betrachten. ..Ein Volk, das seit Jahren mehr Geld für militärische Verteidigung als für den Ausbau sozialer Reformen ausgibt, gerät in die Nähe des geistlichen Todes.” King war überzeugt: ” Ein Gebäude, das Bettler hervorbringt, muß neu gebaut werden.”

Wenige Monate vor seinem Tod entwickelte King einen Plan zur politischen Mobilisierung aller Unterprivilegierten in den USA. Eine ”Kampagne der Armen”(”Pool People’s Campaign”) sollte die Bürgerinnen der USA mit der Armut im eigenen Land konfrontieren. Die für das Frühjahr 1968 geplanten Aktionen sollten erstmals Arme aus allen ethnischen Gruppen vereinen. Ihr Ziel war: ”Macht für die Armen” (”poor people’s power”).

Diese Zielsetzung und die damit verbundene Thematisierung des Armuts- bzw. Reichtums(!)-Problems ist auch für uns in Deutschland von großer Aktualität; denn die Aufspaltung unserer Gesellschaft in Arme und Reiche schreitet dramatisch fort.

Seit Ende des Jahres 1966 sprach King ständig von dem Zusammenhang zwischen Rassismus, Armut uns Krieg: ”Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die Übel des Rassismus, der wirtschaftlichen Ausbeutung und des Militarismus alle zusammenhängen.” Die Erkenntnis dieses Zusammenhanges führte King in die erste Reihe der Vietnamkriegsgegner. Zunächst hatte er, obwohl er Mitglied des pazifistischen ”Versöhnungsbundes” war, gezögert, offen gegen den Vietnamkrieg Stellung zu beziehen. Führende Bürgerrechtler fürchteten zu Recht, daß die politische und finanzielle Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung durch weiße Liberale gefährdet sei, wenn King deutlich die Regierungspolitik kritisierte. Viele Afro-Amerikanerinnen hatten zudem Angst vor dem Vorwurf, keine echten Patrioten zu sein. King brach mit dieser Tradition in der Überzeugung: ” Es kommt eine Zeit, in der Schweigen Verrat bedeutet.” ” Ich habe selbst jahrelang Gewaltlosigkeit gepredigt. Wäre es nicht inkonsequent, wenn ich nicht gegen den Vietnamkrieg Stellung nähme?”

Genau ein Jahr vor seinem Tod erklärte King in einer eindrucksvollen Antikriegsrede in der New Yorker Riverside Kirche: ” Ich muß meiner Glaubensüberzeugung treu bleiben, mit allen Menschen zu den Kindern des lebendigen Gottes zu gehören. Diese Berufung zur Kindschaft und zur Brüderlichkeit geht über die Zugehörigkeit zu einer Rasse, Nation oder Glaubensgemeinschaft hinaus. Weil ich glaube, daß dem Vater besonders die Leidenden, Hilflosen und Verachteten unter seinen Kindern am Herzen liegen, komme ich .. hierher, um für sie zu sprechen. Es ist unsere Aufgabe, für die Schwachen zu sprechen, für die, die keine Stimme haben ( ,to speak for the voiceless’), für die Opfer unserer Nation, für die, die sie Feinde nennt. Denn keine von Menschen angefertigte Erklärung kann diese zu weniger machen als zu unseren Brüdern” ( ”und Schwestern” – würden wir heute ergänzen- H.G. ).

King war bereit, einen Preis für seine ”schöpferische Unangepaßtheit” zu zahlen. Ein Präsidentenberater erklärte, Kings Reden lägen ” genau auf der Linie der ,commies’”( – verächtliche Bezeichnung für Kommunisten – H.G.). Die Herausgeber des ”Life Magazine”, die nach Kings Ermordung sofort einen Gedenkband publizierten, schrieben nach Kings Rede in der Riverside-Kirche, sie sei ”über weite Strecken eine demagogische Verleumdung, die sich wie ein Manuskript für Radio Hanoi anhörte.”

Der nachdrückliche Hinweis des ”späten” King auf den Zusammenhang zwischen Rassismus, Armut und Krieg ist auch für uns als Bürgerinnen der Bundesrepublik Deutschland von bleibender Aktualität: Wo wir diesen Zusammenhang wahrnehmen, können wir manche gängigen Erklärungen und Konfliklösungsstrategien für innen- oder weltpolitische Probleme nicht akzeptieren ( z.B.: gegen Asylbewerberinnen und Armutsflüchtlinge mehr Grenzpolizei und Gefängnisse in der ”Festung Europa”; in Konfliktzonen der sog. 3. Welt schnelle Eingreiftruppen zur Sicherung westlicher Wirtschaftsinteressen).

Wenn wir nach der Bedeutung des Kingschen Erbes für uns fragen, muß m.E. neben seiner Philosophie und Praxis der Gewaltlosigkeit und seinem Hinweis auf den Zusammenhang von Rassismus, Armut und Militarismus noch ein dritter Aspekt hervorgehoben werden: die ökumenische Dimension von Kings Denken und Handeln.

Zu Recht ist der schwarze baptistische Gemeindepfarrer ein ”Prophet der ökumenischen Christenheit” genannt worden. Ich möchte dies mit einigen Hinweisen auf Kings ökumenisches, konfessionsüberschreitendes Engagement belegen:

Im Rückblick auf den Busboykott von Montgomery schrieb King: ”Ein rühmenswerter Aspekt der ‘Montgomery Bewegung’ war die Tatsache, daß Baptisten, Methodisten, Lutheraner, Presbyterianer, Episkopale und alle anderen mit dem Willen zusammenkamen, denominationelle Grenzen zu überschreiten. ..Sie ..sangen und beteten zusammen im gemeinsamen Kampf für Freiheit und menschliche Würde.”

Das Programm für den sog. Marsch auf Washington im Jahre 1963 erarbeiteten die Leiter der führenden Bürgerrechtsorganisationen zusammen mit einem Gewerkschaftsführer und je einem Repräsentanten der protestantischen, der katholischen und der jüdischen Religionsgemeinschaft. Nach dem Marsch stellte ein Journalist aus den USA fest, daß der Marsch ”die drei führenden Glaubensgemeinschaften des Landes einander näher gebracht hat als irgendeine andere Frage der Geschichte unseres Landes in Friedenszeiten.”

In der Vereinigung ”Clergy and Laymen Concerned About Vietnam” (”Geistliche und Laien in Sorge um Vietnam”), in dessen Präsidium King eintrat, engagierten sich Pastorinnen, Priester, Rabbiner und Gemeindeglieder gegen den Vietnamkrieg. Die Vereinigung wurde zum Abbild jener ”neuen Ökumene” von weißen und schwarzen Protestanten, Katholiken und Juden, deren einheitsstiftendes Moment die politisch-praktische Auslegung des biblischen Friedenszeugnisses darstellt. Nicht das Interesse an einer verwaltungstechnischen oder doktrinalen Einheit der Konfessionen führte zur Bildung dieser neuen Ökumene, sondern die gemeinsame Vertretung der elementaren Interessen von Benachteiligten und Unterdrückten – in diesem Falle von (überwiegend nichtchristlichen) Menschen in Vietnam.

Die wohl wichtigste Aufgabe der Kirche sah King darin, ”Stimme derer zu sein, die keine Stimme haben (voice of the voiceless).” Das bedeutet: Vorrangige Aufgabe christlicher Kirchen ist die Parteinahme für Unterdrückte und Ohnmächtige, nicht aber die Verfolgung eigener Organisationsinteressen. Vertreterinnen der Kirche müssen verschwiegenes oder ignoriertes Unrecht öffentlich benennen. Kirche als ”Stimme derer, die keine Stimme haben,” tritt in der Öffentlichkeit für die Rechte von Benachteiligten ein, mit dem Ziel, daß alle an den Gütern der Erde und den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden.

Dieses Kirchenverständnis machten King und seine Mitarbeiter auch zum Kriterium der Zugehörigkeit zur Kirche Jesus Christi. So sprach King im Hinblick auf die Freiheitsbewegung der Afro-Amerikanerinnen von den ”vielen Leuten, die mit uns zusammengewesen sind seit Beginn des Kampfes, .. die die wahre Apotheose(Verherrlichung, Ebenbildschaft Gottes) des christlichen Glaubens waren. .. Einige sind Kirchenmitglieder, aber viele sind keine.” ”Manche Kirchen” – so King – ”erkennen an, daß sie, um im moralischen Leben Bedeutung zu haben, die Gleichheit zum Gebot machen müssen. Die Basis für ein Bündnis mit ihnen ist stark und dauerhaft. Aber für die Kirchen, die diese Fragen vermeiden und umgehen, die in sozialen oder wirtschaftlichen Fragen stumm oder ängstlich sind, sind wir nicht mehr als Fremde, wenn wir auch dieselben Choräle zur Ehre Gottes singen.”

Daß der in der Tradition schwarzer Baptisten in den Südstaaten verwurzelte King ökumenisch dachte und handelte, war kein Zufall. Sein Konfessionsgrenzen überschreitendes Verständnis christlicher Existenz war Konsequenz seines ”Traums”. Und damit komme ich zu einem wichtigen Aspekt der Bedeutung Kings für uns heute:

King war bewegt von einem ”Traum”. Dieser Traum betraf zunächst die amerikanischen Schwarzen und ihre Gegner, wie es in der berühmten Rede von 1963 (im Rahmen des ”Marsches auf Washington”) zum Ausdruck kommt:

”Ich habe einen Traum, daß eines Tages diese Nation sich erheben und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: ,Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind.’ Ich habe einen Traum, daß eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Slavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich haben einen Traum, daß sich eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt. Ich habe einen Traum, daß meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.”

Im Laufe seines dreizehnjährigen öffentlichen Wirkens hat sich Kings Vision, sein Traum, ausgeweitet von dem national begrenzten Ziel der Gleichberechtigung für die Schwarzen in den USA zur Vision einer weltweiten ”beloved community”, eines ”Welthauses”, in dem alle Menschen – von den Übeln des Rassismus, der Armut und des Militarismus befreit – geschwisterlich zusammenleben. Entsprechend forderte er: ”Unsere Treueverpflichtungen (loyalties) müssen ökumenisch (ecumenical) werden, sie dürfen nicht regional begrenzt (sectional) bleiben. Jede Nation muß jetzt eine sich über alle Schranken hinwegsetzende Verpflichtung gegenüber der Menschheit als ganzer entwickeln.” ”Unsere Treueverpflichtungen müssen über unsere Rasse, unsere Sippe, unsere Klasse und unsere Nation hinausgehen (transcend), und das bedeutet: Wir müssen eine Weltperspektive entwickeln.”

Das ”Haus der Welt”, der ”Tisch der Brüderlichlkeit, die ”beloved community”, das ”Gelobte Land”, der ”Auszug aus Ägypten” – mit diesen und anderen integrativen Bildern, in denen King die Hoffnungen und Sehnsüchte seiner Zuhörerinnen zusammenfaßte, bewirkte er, daß Ohnmachtsgefühle angesichts der gegebenen politisch-sozialen Verhälnisse abgebaut wurden. Diese Bilder hatten mobilisierende Kraft, weil sie den Bann der schlechten Gegenwart überwanden. Kings Traum war ein ”Traum nach vorwärts” (E.Bloch).

Was hat dieser Traum mit uns, mit unserem Christ-sein und unseren gegenwärtigen Bemühungen um Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu tun? Ich denke viel mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ich bin überzeugt, daß der lange Weg zu diesen Zielen angesichts vieler Ohnmachtserfahrungen und Rückschläge nur durchzuhalten ist, wenn er von einer Vision, von einem Traum im Sinne Kings inspiriert ist. Der ”Kältestrom” der Analyse muß begleitet sein von dem ”Wärmestrom” hoffnungsstiftender Bilder, in denen die Zukunft symbolisch vorweggenommen wird.

Ich habe oft den Eindruck, daß viele Jugendliche und Erwachsene in Deutschland übersättigt sind von den unverzichtbaren ”kalten” Analysen herrschenden Unrechts und Elends oder sich gar nicht darauf einlassen. Gerade deshalb ist es m.E. eine vorrangige pädagogische und seelsorgerlische Aufgabe, Visionen und Träume zu artikulieren, die aus Apathie und Resignation oder ohnmächtiger Wut herausholen. So stellt sich uns mit der Erinnerung an Martin Luther King die Frage: Welcher Traum bewegt uns als Christen und Christinnen, als Bürger und Bürgerinnen in Deutschland?

Überblickt man die dreizehn Jahre des öffentlichen Wirkens von Martin Luther King, Jr., so wird deutlich: Er war ein Mensch auf einem Weg. Als wacher und empfindsamer Zeitgenosse ließ er sich in seinem denken und handeln immer wieder zu neuen Entwicklungen herausfordern. In Montgomery hatte er zunächst nur höfliche Behandlung der Schwarzen, nicht einmal die Aufhebung der Rassentrennung gefordert! Dreizehn Jahre später schickte er sich an, Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams am Regierungssitz zu organisieren. Während er 1964 als Friedensnobelpreisträger große öffentliche Anerkennung erfuhr, riskierte er in seinen beiden letzten Lebensjahren gesellschaftliche Ächtung wegen seiner prophetischen Kritik an den Mächtigen.

Martin Luther King war kein unangefochtener Held. Gegen Ende seines Lebens äußerte er mehrmals die Befürchtung, sein Traum könne sich in einen Alptraum(nightmare) verwandeln. Nur durch seinen Tod wurde er gehindert, in der Ebenezer Baptist Church von Atlanta eine Predigt zu halten, deren Thema lautete: ”Warum Amerika zur Hölle gehen könnte” (”Why America May Go to Hell”). Der für seinen Humor bekannte King war oft niedergeschlagen, von depressiver Stimmung ergriffen. Derselbe Mann, der für viele eine unantastbare moralische Autorität war, litt unter Schuldgefühlen wegen außerehelicher Beziehungen, plagte sich mit Selbstzweifeln. Der FBI, der ihn abhörte, legt ihm Selbstmord nahe!

Ich vermute: In seiner Widersprüchlichkeit und Angefochtenheit ist Martin Luther King uns näher als in den Heiligen- Schreinen eines King-Kultes.

Was gab Martin Luther King die Kraft, seinen Kampf für Gerechtigkeit und Befreiung durchzuhalten – allen Anfechtungen, Inhaftierungen, Todesdrohungen, Mißerfolgen und Selbstzweifeln zum Trotz? Es war sein christlicher Glaube, der sich stützte auf das religiöse Erbe schwarzer Christinnen in den Südstaaten der USA. Kings Glaube war von der Hoffnung auf den befreienden Gott, von der Erinnerung an die prophetischen Visionen menschlichen Zusammenlebens in Gerechtigkeit und an Jesu Eintreten für ”die, die keine Stimme haben”. King glaubte die Worte eines Negro Spiritual: ”I heard the voice of Jesus, saying still to fight on. He promised never to leave me, never to leave me alone.”(”Ich hörte die Stimme Jesu, der mir sagte, ich solle weiterkämpfen. Er versprach mir, mich nie zu verlassen, mich nie allein zu lassen.”)

Über drei Jahrzehnte nach Kings Tod ist seine Vision einer geschwisterlichen Weltgemeinschaft keine Realität. Aber wenn wir – durch die Erinnerung an ihn ermutigt – ”sprechen für die, die keine Stimme haben”, ist sein Traum unter uns lebendig.

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Angaben zur Person für das Autorinnenverzeichnis:

Heinrich W. Grosse, Dr. theol., geb. 1942 in Lüneburg; 1961-1966 Theologiestudium in Hamburg, Heidelberg, Tübingen und Göttingen; nach Vikariat und Assistentenzeit(Theol. Hochschule Bethel) 1967-1968 Studium der Theologie und Religionssoziologie in Boston/USA; Mitwirkung an Projekten der von King geleiteten Bürgerrechtsbewegung; 1972-1989 Gemeindepfarrer in Wolfsburg; seit Herbst 1989 Mitarbeiter der Pastoralsoziologischen Arbeitsstelle der ev.-luth. Landeskirche Hannovers (seit 1.7.1998: Pastoralsoziologisches Institut der Ev. Fachhochschule Hannover), † 2018