Rückblick 2001

„Freie Presse“  19.12.2001

Martin Böttger will als neuer Chef der Chemnitzer Stasi-Akten-Behörde stärkeres Gewicht auf die politische Bildung legen

 Chemnitz. Mit Marianne Birthler und Martin Böttger haben sich gestern zwei alte Bekannte in der Chemnitzer Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde getroffen. Kennen gelernt hatten sich beide als DDR-Bürgerrechtler in einem Lkw, der sie in den Stasi-Knast fuhr. Als die Stasi im November 1987 die Umweltbibliothek der Berliner Zions-Gemeinde besetzte, waren die beiden neben anderen verhaftet worden. Auf dem Lkw gab der im Umgang mit der Stasi schon hart geprüfte Böttger der jungen Birthler die erste Rechtsberatung in ihrem Leben: „Antworte ja nicht auf jede Frage!“

Der Anlass ihres Wiedersehens nach 14 Jahren war ein schöner: Martin Böttger ist seit gestern Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, Außenstelle Chemnitz. Marianne Birthler, Leiterin der Bundesbehörde, führte Böttger ins Amt ein, das bis dahin Andreas Steiner inne hatte. Sie sieht die Leitung der Außenstelle, bei der jeden Monat rund 1000 Anträge auf Akteneinsicht gestellt werden, in guten Händen. Der Behörde werde bisweilen vorgeworfen, über der Aktenschau die Opfer zu vergessen. Böttger sei aber ein Mann, der die Geschichte aus Sicht der Verfolgten wahrnehme, weil er selbst verfolgt war.

Böttger, Jahrgang 1947, war Gründer des Neuen Forums in Chemnitz und er verhinderte hier zusammen mit anderen die Vernichtung der Akten des MfS. Dass die Zerschlagung des Stasi-Apparates friedlich ablief, hängt maßgeblich damit zusammen, dass Menschen wie er ihre Wurzeln in der oppositionellen Friedensbewegung der DDR haben. 

So reichen Böttgers politische Aktivitäten bis in die 70er Jahre zurück. Er rief die Königswalder Friedensseminare mit ins Leben. Und in dem Land, das offiziell Frieden und Freundschaft predigte, demonstrierte er 1975 mit selbst gestalteten Plakaten für Menschenrechte. 1985 wurde er verhaftet, weil er sich an einer Menschenkette beteiligte, die von der sowjetischen zur amerikanischen Botschaft führte und für ein Miteinander der Supermächte warb.

Im Vorfeld der Volkskammerwahlen im Mai 1989 organisierte Böttger eine Wahlbeobachtung und wies der DDR-Führung Wahlfälschung nach. Heute scheint es bisweilen in Vergessenheit zu geraten, dass derartige Aktivitäten, die den Untergang der DDR bewirkten, zu jener Zeit lebensgefährlich waren. Die Akten belegen es aber eindrucksvoll.

Auch Böttger ist ein Mann, der nach vorn blickt. „Unsere Kinder wollen erfahren, wogegen sich ihre Eltern zur Wehr setzten, wie sie sich verstrickten oder ob sie schwiegen.“  So werde die Außenstelle unter seiner Leitung ein starkes Gewicht auf Bildungsarbeit legen und die Zusammenarbeit mit Schulen verstärken, kündigte er gestern an.

In welchem Maße die weitere Aufarbeitung der Stasi-Geschichte stattfinden wird, hängt nicht nur davon ab, wie der gegenwärtig laufende Rechtsstreit um das Stasi-Unterlagengesetz zwischen Birthler und Altkanzler Helmut Kohl ausgehen wird. Unabhängig vom juristischen Ausgang werde der politischen Streit anhalten, sagte Birthler. Sie sei aber optimistisch, dass es zu einer Novelle des Gesetzes durch den Bundestag kommt. „In den Fraktionen überwiegt die Ansicht, dass der Rechtsstreit nicht bewirken darf, dass die Unterlagen über DDR-Funktionsträger unter Verschluss bleiben.“

Fernsehdokumentation über Werdauer Oberschüler

„Freie Presse“  04.10.2001

Werdau.  Der MDR-Livesendung „Hier ab vier“ am Dienstag aus dem Funkhaus Leipzig mit Werdauer Zeitzeugen wie Achim Gäbler und der mitternächtlichen gestrigen Ausstrahlung des Filmes über den „Werdauer-Oberschüler“-Prozess in Zwickau vor 50 Jahren war am Montagabend im Saal des Rathauses die festliche Voraufführung vorausgegangen. Aus 16 Stunden Material wurde eine 60-minütige Fernsehdokumentation geschnitten. Gut, dass Oberbürgermeister Volkmar Dittrich seinen Universalschlüssel für alle Räume einstecken hatte und selbst mit Hand anlegte, denn es erwies sich als notwendig, noch alle verfügbaren Stühle herbeizutragen. Mehr als 130 Besucher waren der Einladung gefolgt. Auch die Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen Edda Ahrberg und Michael Beleites sowie Holker Thierfeld als Vertreter der Birthler-Behörde Chemnitz hatten ihre Teilnahme ermöglicht.

Vor allem aber drückten Stadtrat Michael Jubelt und auch viele Werdauer den anwesenden Zeitzeugen darunter Achim Beyer, Gerhard Büttner, Helmut Krauß, Siegfried Müller und Manfred Stets, die mit ihren Ehefrauen da waren, ihre Verbundenheit aus. Einige der 19 damals Aktiven lassen diese Vergangenheit lieber ruhen. An Günter Kahler, Theobald Körner, Heinz Rasch und Anneliese Stets als bereits Verstorbene konnte nur noch in Trauer gedacht werden.

Aus dem Martin-Luther-King-Zentrum kam der Vorschlag für eine Ehrung der damals Jugendlichen, die 1950/51 in der sich zum Totalitarismus entwickelnden jungen DDR in Flugblättern Demokratie anmahnten und dies hart büßen mussten. OB Dittrich griff den Vorschlag auf und bekundete den damaligen Oberschülern „größte Hochachtung“ und würdigte deren Aktionen als „Teil der Geschichte unserer Stadt“. 

Bei allen Grenzen, die einer solchen Filmdokumentation gesetzt sind – Redakteurin Beate Schönfeldt, Autor Martin Kreutzberg und Christian Klemke als Regisseur können zufrieden sein.

Forderung nach Devisensteuer (13.09.2001)

Werdau. Tagtäglich fließen auf den internationalen Finanzmärkten 1,5 Billionen Dollar rund um die Welt. Ein Großteil dieses Geldes dient aber längst micht mehr der Finanzierung von Investitionen, sondern ausschließlich der schnellen Jagd nach Gewinnen. Der Wandel der Finanzmärkte zu einem globalen Spielplatz für Spekulateure gefährdet aber dauerhaft deren Stabilität. Und: Die Regierungen sind gezwungen, sich das Vertrauen der Investoren zu erkaufen – zu Lasten der Arbeitnehmer, der sozialen Grundversorgung und des Umweltschutzes.

Um kurzfristige Spekulationsgeschäfte unrentabel zu machen, fordern einige Wirtschaftswissenschaftler und Theologen die Einführung einer so genannten Devisenumsatzsteuer (Tobin Tax). Schon eine Steuer von lediglich 0,1 Prozent würde weit über 100 Milliarden Dollar jährlich einbringen, die für die Linderung der Not in der Welt verwendet werden könnten.

Wer sich dieser Forderung anschließen möchte, kann sich bis Ende der Woche im Martin-Luther-King-Zentrum (8 bis 15 Uhr) in Unterschriftenlisten eintragen.

Am 27. und 28. Oktober wird sich ebenfalls das Christliche Friedensseminar mit einem ähnlichen Problem befassen, das Thema lautet: „Geld ruiniert die Welt“.

Auf den Spuren Martin Luther Kings

„Freie Presse“ 06.09.2001

Werdau/Washington.  Sechs Gründungsmitglieder des Martin-Luther-King-Zentrums Werdau beteiligten sich an einer Studienreise auf den Spuren Martin Luther Kings im Osten der USA. Sie war vom Versöhnungsbund und vom King-Zentrum vorbereitet worden.

Die Frauen und Männer machten unter amerikanischen Bürgerrechtsgruppen sächsische Friedensinitiativen, die Stadt Werdau und das Vogtland bekannt. Bilder vom Torbogenhaus Werdau, von der Göltzschtalbrücke, Plauener Spitze und Schwibbogen blieben als Andenken in den Staaten zurück.

Am Hiroshima-Tag beteiligte sich die 16-köpfige deutsche Gruppe vor dem Lincoln-Memorial, wo King 1963 vor 250.000 Menschen seine Rede „Ich habe einen Traum“ gehalten hatte, aktiv an einer Gedenkveranstaltung von 80 Langzeit-Friedensaktivisten, die von amerikanischen und japanischen Touristen mit Interesse verfolgt wurde. Volker Grotefeld vom Internationalen Versöhnungsbund, der das King-Zentrum Werdau öffentlich benannte, forderte gemeinsam mit anderen Rednern die Abschaffung der Atomwaffen einschließlich der noch immer in Deutschland lagernden sowie den Verzicht auf NATO-Abenteuer auf dem Balkan und auf das amerikanische Sternenkriegsprogramm.

Von Kings Geburtshaus in Atlanta bis zum Ort der Ermordung im Lorraine-Motel in Memphis konnten sich die deutschen Besucher über Montgomery, Selma, Birmingham und New York mit der Topografie des Widerstandes vertraut machen. Sie trafen sich in mehreren Orten mit Initiativen, die heute noch für gewaltfreie Konfliktlösung und sozialen Wandel aktiv sind. Nach rund 5000 von Süd nach Nord mit zwei Vans zurückgelegten Kilometern erreichten sie Kings Promotionsort Boston, wo sie mit dem Friedensforscher Gene Sharp zusammentrafen und im Univeritätsarchiv originale Handschriften Kings in den Händen halten konnten.

Einen ausführlichen Bericht finden sie unter Auf den Spuren Kings

Outdoor-Seminar von Herbert-Wehner-Bildungswerk und Martin-Luther-King-Zentrum

 Begeistert wurde ein gemeinsames Outdoor-Seminar „Erinnern und handeln“ zur Überwindung von Gewalt von Jugendlichen aus Südwestsachsen aufgenommen, das mit Übernachtung in Zelten im Moritzburger Wald vom 1. bis 6. Juli 2001 stattfand. Eine der 32 Teilnehmerinnen hatte kurz vorher 32 Überstunden geleistet, um mitfahren zu können.

Es erwies sich zunächst als schwierig, in sechs Tagen Gemeinschaft zwischen den jungen Leuten aus unterschiedlichem sozialen Umfeld, sowohl Abiturienten als auch schwer vermittelbaren arbeitslosen Jugendlichen, zu entwickeln. Aber das Experiment gelang: Alle Beteiligten waren über die Erlebnis- und Abenteuerstrecke für das Thema zu interessieren.

In der Käthe-Kollwitz-Gedenkstätte Moritzburg diskutierten sie über proletarisch-pazifistische Kunst und erprobten sich selbst an einer Grafik. Spuren von Zerstörung, Widerstand, Verfolgung und Holocaust ging die Gruppe vom Ökumensichen Informationszentrum Dresden aus nach. In einer Drogenklinik beschäftigten sich die Jugendlichen mit Gewalt durch Drogen, mit Euthanasie und dem Umgang mit Behinderten. Die Teilnehmer machten sich in der Karl-May-Stadt Radebeul am Beispiel der Indianer mit Menschen vertraut, die auf Grund ihrer Rasse und Kultur „anders“ sind.

Die verschiedenen Stationen wurden mit Referaten und Gesprächsrunden im Camp intensiv nachgearbeitet. Die jungen Leute hatten das Gelände selbst vorbereitet, kochten am Feuer, gingen im Steingrundteich schwimmen und gestalteten die weitere Freizeit mit Volleyball und Musik.

Aktion „Noteingang“ soll Schutz vor rassistischen Übergriffen bieten

Zwickau (up). Als 137. Komune in Deutschland hat Zwickau diese Woche die Aktion „Noteingang“ gestartet. Sie soll ein Zeichen gegen Ausländerfeindlichkeit setzen und damit einen „Klimawechsel in der Stadt bewirken“, indem sie Zufluchten bei rassistischen Überfällen kenntlich macht. Orange Aufkleber weisen den Weg. Sie kleben schon an Bussen, demnächst beim Arbeitsamt, in der Verwaltung und in Schulen. Bauchschmerzen bereitet die Aktion den Händlern. Die Geschäftsinhaber befürchten, das sie sich mit dem Aufkleber an der Tür ein Kuckucksei ins Nest legen. Erst in jüngster Zeit sind vermehrt Ausländer als Taschen- und Ladendiebe auffällig geworden. Doch DGB-Kreischef und Initiator Werner Schuh ist optimistisch: „Die IHK hat erst einmal einen ganzen Pack Aufkleber mitgenommen. Sie will mit den Händlern reden.“ Der SPD-Stadtrat hofft auf ein Schneeballsystem. Große Unterstützung erfuhr er von der Polizeidirektion Zwickau. Die Bevölkerung soll mit Flugblättern informiert werden, die auch in persisch, arabisch und vietnamesisch gedruckt wurden.

Wochenspiegel Zwickau 24.03.2001; Foto: Pleißner